Daheim   Hilfe   Autor   Laden   Presse   Post   Museum   Welt



      Die Welt ist zum Verhandeln da.

Don Quichotte aus Kaedi
Eine erste Reise nach Mauretanien, 2006

als PDF  (mit  weniger Fotos)


10000 Meter über Kastilien kommen mir die Tränen. Hinter den geschlossenen  und feuchten Augendeckeln sehe ich ich die beiden Herren im betagten MAN Lastwagen, Jahrgang 85, durch das aufgrünende Spanien fahren. Mein Freund Ibrahim, Mauretanier, schwarz und schlank, sitzt neben dem Chauffeur Staic, Serbe, weiss, gedrungen und fett. Ich fahre hinterher im 4x4 Mitsubishi, Jahrgang 87, immer mit Blick auf die Laderampe und die alte, angerissene Plane, die im Fahrtwind am blauen Himmel flattert. Es ist die Art Tränen, die nicht so einfach zu erklären, sondern vielleicht nur zu erleben sind, die  durchs Leben kullern, hier oben über Kastilien auf dem Rückflug von einem kleinen Abenteuer, das mich vom eisig kalten Zürich in das staubig heisse Nouackott geführt hat.

Schreinergasse

Ibrahim hat vor Monaten schon von "Steiss", wie er Staic in seinem eigenen Deutsch nennt, den alten MAN Lastwagen für etwa 2000 Franken gekauft, Zweiachser mit Plane und Hebebühne. Und seit Monaten schon führt mich Ibrahim auf die Occasionsverkaufsplätze der Zürcher Agglomeration, wo meist arabisch sprechende Händler in alten Wohnwagen sitzen, mit Ibrahim über Preise diskutieren und ihm gute und schlechte Ratschläge geben für seine Reise heim nach Kaedi am Senegalfluss, südlichste Provinz von Mauretanien.

Da sitzen sie zum Beispiel eng aufeinander im Wohnwagen in Schlieren, einem Vorort, der bekannt ist für seine Plantagen voller Gebrauchtwagen. Der Händler und seine Freunde rauchen Wasserpfeife und schauen im TV arabische Schnulzen. Und bald wird auch Ibrahim in seinem Wohnwagen sitzen, sass auch schon da, muss nun aber weg auf die grosse Reise. Ibrahim wird in Schwerzenbach sitzen, dem hässlichsten Vorort meiner ansonsten so hübschen Heimatstadt. In Schwerzenbach hat er Steiss kennen gelernt, der in seiner kleinen Autowerkstatt noch ein Zubrot verdient nach seinem Feierabend als Baggerführer. Auf dem Verkaufsplatz neben der Werkstatt, wo vor allem Serben und Kosovaren friedlich nebeneinander ihre Autos für den Export nach Exjugoslawien zusammenstellen und zurechtmachen, da also hat nun auch Ibrahim einen Abschnitt zum An- und Verkauf gemietet.

Steiss erscheint zweimal frühmorgens vergeblich, um die grosse Reise anzugehen. Desorganistaion, fehlende und defekte Teile, irreführende, afrikanische Vorstellungen von bürokratischen Abkürzungen... eine endlose Kette von sich selbst nährenden Problemen, aber Steiss kommt auch am dritten Morgen, misslaunig und misstrauisch zwar, aber er kommt, obwohl sogar sein Sohn ihm davon abgeraten hat mit dem Afrikaner zu fahren und sein Herzproblem noch zu verschlimmern. Und Ibrahim hatte recht, wenn er schon seit Wochen von Steiss schwärmt; der Mann hält sein Wort, auch wenn es ihn bis anhin nur Aerger und Zeit gekostet hat. „Ibrahim ist ein  Pechvogel“, sagt meine Frau, sagen alle in unserer gemeinsamen Nachbarschaft, aber ich gehe mit ihm nach Hause, sein wirkliches Zuhause, wo die Eltern im Zelt wohnen, sehnsüchtig auf ihren verlorenen Sohn warten und Ibrahim hoffentlich wieder mal richtig grosse Portionen Glück findet. Steiss muss das ganz ähnlich sehen.

Schwerzenbach

Steiss fährt Ibrahim den Lastwagen fast gratis nach Südspanien. Im Lastwagen drin ein Mitsubishi Pajero 4x4, Jahrgang 90, darum herum auf der Ladefläche unzählige alte Computer, Bildschirme, Kopierapparate, Fernseher, Pneus, Büromöbel und als Krönung eine Klimaanlage, die unbedingte Voraussetzung ist für den Betrieb von Ibrahims Kopier- und Computerstube im heissen Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens. Und dieses Lokal hat er auch schon etwas aufgefüllt mit Elektronikware, die er in alten Lieferwagen verstaut und verschifft hat. Nun also geht es damit erstmals über Land. Und niemand von uns dreien hat diesen Weg je gemacht. Ibrahim ist gerüchtehalber informiert, ich etwas googelisiert und Steiss kennt auch nur den Weg nach Serbien.

Es ist Ibrahims grosser Traum als Händler zu reussieren und so eine Brücke ein seine alte Heimat zu bauen. Aber Ibrahims Startkapital ist mager. Welch schöne grosse Geschäfte könnte er doch machen mit etwas mehr Finanzkraft. Doch mit dem wenigen Geld, das er zur Verfügung hat, eigentlich gar nicht hat, kann er sich immer nur die billige Lösung leisten, deren Folgekosten ganz gern noch das allerletzte Goldkorn aus Ibrahims Portemonnaie saugen. Und sauber ist er "mon cher ami", und auch immer gut angezogen, immer freundlich, immer guter Laune. Fast immer, denn unweigerlich wird er manchmal mit bürokratischen und überhaupt Ansprüchen konfrontiert, die er entweder verdrängt hat oder schlicht nicht kennt. Und so gerät er, der wirklich wunderbar pointierte und spannende Analysen über die grosse und die kleine Welt machen kann öfter mal in Situationen, in denen sein eigener Idealismus, seine scheinbar so gut durchdachten Argumente zusammen mit einer Prise Sturheit auf schroffes Unverständnis der Aussenwelt stösst. Deshalb will er mir manchmal erscheinen wie Don Quichotte. Aber Don Quichotte ist in uns allen, und Ibrahim lernt und macht weiter, er gibt nie auf und hält an seinen Plänen fest. Und wenn es ganz schlimm kommt, findet er immer noch Trost bei Allah.

Steiss fährt mit Ibrahim im Lastwagen ohne funktionierende Scheibenwischer durchs stark verregnete Frankreich, ich mit dem zweiten Pajero, Jahrgang 87, hinterher, das Steuer knirschend, die Bremsen schon schwach, das Getriebe mit Klopftönen, noch immer beschriftet als Fahrzeug einer Sprengfirma.

Steiss schläft nachts halb ausgestreckt in der Kabine, legt seinen Bauch um den Schalthebel und lehnt den Kopf mit Schnauz an Ibrahim an, der die Nacht sitzend durchdöst. Steiss fährt zielsicher durch das von ihm noch nie befahrene Spanien und macht nur einmal einen Fehler. Als Ibrahim ihn darauf anspricht, sagt der Serbe in perfektem Schwyzerdütsch „heb d`Schnörre“. Ibrahim wird Steiss dafür noch lange lieben, denn allzu viel reden sie nicht miteinander. Steiss sagt, Ibrahim ist kompliziert und schlecht organisert, aber ich helfe ihm, er soll dieses Geschäft machen." Ibrahim empfahl mir, als ich ihn frage, was ich den auf die Reise durch die Wüste mitnehmen soll, ein schönes Jackett für den Besuch beim Sekretär für auswärtige Angelegenheiten in Nouakchott. Ich nehme ein Jackett mit, aber auch ein Seil und Kabelbinder und ein paar andere praktische Dinge, die Steiss gefallen.

Ibrahim lebt immer weit weg. Ibrahim ist in seinem Leben weit weg irgendwie schon daheim. Dieses Daheim ist wie die Spitze eines Windmühlenblattes, wo man sich besonders gut festhalten muss. Doch immerhin geht nicht immer  ein Wind. Vielleicht bin ich zumindest ein Teil dieses Flügels. Die Nabe aber, die heisst Kaedi, dahin kann er alle paar Jahre hinreisen. Und Ibrahim hat die Windmühle auch in sich. Sein ansonsten so klarer Verstand hat hin und wieder diese perpetualen Tendenzen. Teilweiser Analphabetismus mag der Auslöser oder das mangelhafte Getriebe sein, die Ibrahims Mühle in unserer Schriftwelt manchmal zum überschnellen Rotieren bringt, so dass es die Formulare und Dokumente zerfetzt und verweht, auch wenn er sich mit noch so gutem Vorsatz in den Kampf wirft. Und schliesslich ist da die Nabe, die alle Kräfte bündelt, das patriarchale, gütige und milde Kaedi, die Eltern, die im Dorf warten auf Ibrahim, den verlorenen Sohn und seinen weissen Freund.

Windmühlen

Steiss kommt immer wieder in seinem Kaedi an, Steiss hat nicht 8000 sondern nur 800 Kilometer dahin zurückzulegen, in Serbien auf dem Land. Steiss fährt mit dem Lastwagen dahin. Steiss tut, was Ibrahim sich erträumt. Steiss hat seine Welten fast beisammen und erzählt Ibrahim von serbischen Wünschelrutengängern, die Wasseradern ausfindig machen und exakt sagen, wo genau gegraben werden muss. Wäre das nicht ein sinnvoller Export? Serbische Wünschelrutengänger im trockenen Kaedi? Solche Dinge reden sie miteinander in der Tapasbar, 100 Kilometer vor Algeciras, dem Fährhafen in Südspanien, wo wir nach Tanger übersetzen wollen. Und beide haben keine Ahnung, was denn das soll, diese Kleinportionen. Steiss setzt sich an den Tisch und lässt mich für ihn Patatas fritas bestellen. Ibrahim dagegen verzweifelt, kaum in Spanien, das Meer ahnend, sucht er immer nach Fisch mit Reis, nicht Paella, einfach Fisch mit Reis. Aber Tapas, was soll das? Schweinefleisch? Niemand versteht jemanden, Spanier reden sowieso nur Spanisch und noch sind wir nicht in Algeciras, wo Ibrahim sich problemlos mit Arabisch durchschlagen wird. Und Steiss erzählt von seinem Bruder, mit dem er fast alles teilt, die Autos, die Identitätskarte und praktischerweise die Fahrtenschreiberkarten. Und auch Ibrahim hat einen Bruder, weit weg, mit dem er fast alles teilen möchte, der uns erwartet, der uns auch helfen kann beim Verkaufen, hoffentlich. Und Brüder hat er wahrlich nötig, ohne Lesen und Schreiben kann es für Ibrahim nicht genug davon geben auf dieser Welt.

Ja dies Mauretanien und der Bruder. Ich kenne beide schon detailliert aus den Erzählungen Ibrahims, in denen er über die Jahre hinweg alle Facetten in wechselnden Farben dargestellt hat. Hat er dies Land zu Beginn noch etwas glorifiziert, ist er mit der Zeit zunehmend kritischer geworden, schweizerischer auch. Armut und Dreck, das enorme Wohlstandsgefälle, was würde ich davon halten, wenn ich  mal auf Besuch käme? Trotz aller aufkeimenden Zweifel, Mauretanien dieses etwas abgeschottete Wüstenland mit Meeranschluss ist für Ibrahim, und nicht nur für ihn, ein reiches Land, Fische, Erz und bald Erdoel. Und an diesem Reichtum möchte er mitknabbern, sieht dies Land bald prosperieren, die Nachfrage nach all den schönen Konsumgütern, die hier in Europa als Occasionen günstig zu erstehen sind,  sprunghaft ansteigen.

Algeciras

Im sonnigen Süden Spaniens gefällt es auch Steiss und in Algeciras  angekommen, nach zwei Nächten mit dem  Bauch um den Schalthebel, überlegt er sich ernsthaft, die Reise mit uns fortzusetzen. Doch Steiss hat nicht die rechten Papiere. Still und dankbar trägt ihm Ibrahim die Reisetasche zum Bahnhof. Später wird Steiss mit seinen Wurstfingern SMS schreiben und nach unserm Befinden fragen. Ibrahim und ich werden am Strand von Tanger spazieren und Steiss vermissen. Am Strand von Tanger gibt es keine dunklen, schlanken Mauretanier und zu dieser Jahreszeit auch keine mittelgrossen Mitteleuropäer und wohl überhaupt nie kleine dicke Serben.

Und wir haben in Tanger ausgiebig Zeit zum Spazieren, denn der marokkanische Zoll will ein Depot für die Durchfahrt, das Ibrahim nie und nimmer zahlen kann. Kostete das Durchfahrdepot für die EU gerade mal 500 Franken für etwas, dass sich da halt auch nicht mehr verkaufen lässt, wollen die Marrokaner gerne 30000, wohlwissend, dass in ihrem Land der Wert schon beträchtlich gestiegen ist und gegen Süden hin weiter ansteigen wird. Und was den von mir gefahrenen Mitsubishi Pajero betrifft, wird ab Tanger jeder Zöllner und jeder Polizist davon ausgehen, dass ich, der Weisse, es bin, der den Pajero verkaufen will und Ibrahim nur mein arabisch sprechender Strohmann ist. Doch Ibrahim trägt das Risiko, Ibrahim bezahlt. Ibrahim ist der Ritter. Steiss und ich sind nur die Knappen.

Vielleicht hätte ich Ibrahim eindringlicher warnen sollen, solche Probleme mit dem Zoll schwanten mir. Doch anderseits, in Marokko spricht man arabisch wie im Wohnwagen in Schlieren. Das ist eine Sprache, die einem nachbabylonischen Europäer  als Schlüssel  für alle möglichen Probleme erscheinen mag und mir in meinem Unverständnis auch viel Verantwortung abnimmt und mich so zum Knappen macht, zusammen mit Steiss, zwei zuweilen widerspenstigen Knappen, die kein Wort verstehen von der Sprache dieser grossen arabischen Gemeinschaft, die sich im spanischen Algeciras ankündigt und sich mit Salam Aleikum begrüsst, uns Europäer freundlich einschliesst und umgarnt, aber doch ängstigt, wenn wir wieder zu Hause die Nachrichten schauen. Und die Depotfrage wird in einer Weise diskutiert, als ob da schon etwas zu machen wäre. Doch Geld liebt man auf der ganzen Welt, auch in Marokko. Und der Stärkere nimmt es sich heraus, seine Hand darauf zulegen.

In der Altstadt von Tanger

Es folgt nach der Ankunft in Tanger ein tagelanges Procedere, um den Lastwagen erst einzuführen und gleich wieder auszuführen. Der erste Transiteur, der uns vom Parkwächter empfohlen wird, lehnt den Fall sogleich ab. Ein Transiteur ist in Tanger einer, der für den Transporteur alle Autoritäten abklappert und deren Unterschriften einsammelt und halt je nach dem mehr oder weniger schnell reussiert. Und dieses Jenachdem ist uns Amateurtransporteuren die grosse Unbekannte, in die man allerlei schlimme Geschichten über den marokkanischen Zoll hineinprojezieren kann. Und auch der nette marokkanische Chauffeur, den wir von Spanien her kennen, führt uns in der Stadt herum und sucht ganz unentgeltlich mit uns einen Helfer, doch keiner sieht eine Möglichkeit, den Lastwagen günstig durch Marokko zu bringen. So kann man sich wunderbare Wahnwelten basteln, in denen schon die Aasgeier des Transportgewerbes auf ihr nächstes Opfer warten, einen der illiquiden, gestrandeten Laster im Hafen von Tanger. Ist der Handel schon gemacht und der zukünftige Besitzer schon vom Oberzolldirektor bestimmt? Wartet man nur freundlich, bis wir abgezogen sind und zieht man meinem Ritter in der Zwischenzeit noch ein paar Euros aus dem Waffenrock?

Da wird uns von als Ganoven verkleideten Neppen, Mohamed Abdulatif zugeführt. Warum nicht? Hier ist Tanger und viele verdienen sich ein Bakschish mit Klein- bis Nullinformation. Abdulatif selber ist wahrlich kein Ganove und auch nicht verkleidet. Abdulatif ist eine interessante, charmante und auch körperlich imposante Person. Doch er wird den Fall nicht lösen, wird keinen Erfolg haben im Sammeln der Unterschriften bei all den Zolldirektoren, wird am Schluss nur Zittern vor Angst, wenn man ihm mit der Polizei droht. Denn Abdulatif hat sicherlich ganz intensive Erfahrungen mit der marokkanischen Polizei gemacht. Abdulatif spricht wohl die Wahrheit, wenn er derart profund referiert über die Schattenseiten des marokkanischen Königreichs und als Referenz sein Wissen über Europa ausbreitet, welches durchaus beeindruckend ist und Abdulatif als gebildeten und weit gereisten Mann ausweist. Was aber treibt einen solchen Herrn in den Hafen?

Abdulatif stellt sich später als ehemaliger höherer Staatsangestellten vor, der im spanischen Fernsehen vor Jahren vielleicht die Wahrheit, aber halt doch das Falsche gesagt hat. Das lässt uns zweifeln, ob denn ein gefallener und vielleicht gar gequälter Staatsdiener als Bittsteller beim Zoll noch taugen kann.

Aber er beleuchtet in seinen Referaten nur, was wir im Hafen in profaner Form beobachten, Schwärme von zehnjährigen Buben, die sich durch die Gitterstäbe der Hafenumzäunung drängen, um sich in einem offenen Lastwagen zu verstecken oder direkt als Passagiere auf die Fähren zu schmuggeln. Wie können das die Eltern zulassen oder gar fördern? Und vielleicht ist Abdulatif selbst ein Förderer, ein Menschenschmuggler und auch deshalb an unserem Fall interessiert? Oder dann diese gewisse Vorsicht und Schweigsamkeit der Marokkaner, was politische Themen betrifft. Angst oder vielleicht auch bloss eine maghrebinische Melancholie, die in den Adern der Menschen hier fliesst? Und wenn der junge König, der von jeder zweiten Strassenkreuzung von riesigen Plakaten herab noch melancholischer ins Nichts schaut als seine Untertanen, wenn er also tatsächlich einen etwas angenehmeren und aufklärerischen Kurs als sein Vater fährt, dessen Knebel scheint durchaus noch immer zu wirken.

Tanger Fluchtwege

Abdulatif weiss genau, welche Position Marokko in der Rangliste des BIP einnimmt, 112, und wo der König mit seinem Vermögen steht, 4, was nicht ganz offiziell ist, aber denkbar. Er weiss auch als Einziger weit und breit, dass und wann eine Fähre von Cadiz nach Mauretanien fährt, dienstags sicher. Und Abdulatif gibt genaue Auskunft, was denn ein marokkanischer Arbeiter, 100, ein Chauffeur im Inland, 300, und einer in Spanien, 600, an Euro verdient. Sich selbst betrügt er mit 1200. Auch ihm will ich durchaus etwas Augenwasser zugestehen.

Und Abdulatif, dieser so weltlich gewandte Abdulatif, auch der spricht über Religion, spricht über einen Islam des Herzens. Und wie auch immer es um sein eigenes Herz steht, der Islam ist eine ausserordentlich herzliche Religon, faszinierend totalitär und die Menschen straff durchs Leben führend. Als katholischer Atheist war ich  durchaus froh, dass auch Ibrahim gern über seine Religion spricht, sich dazu bekennt und tatsächlich nie Alkohol trinkt. Er hat es nicht einfach auf seinen Windmühlenrädern und es ist wahrlich nicht gut, sich besoffen durch ein karges Leben zu drehen. Aber ich werde auf dieser Reise etwas Sehnsucht entwickeln nach Rotwein und Schweinefleisch, nach Menschen, die grob und hässlich wie ich selber sind und nicht die Sanftmut und Zärtlichkeit von muslimischen Männern praktizieren, deren Handschlag weich und drucklos ist, von den Frauen ganz zu schweigen, deren unreine Hände ein Mann ja sowieso nicht schütteln oder halten oder sonstwie traktieren darf. So, aber sicher nicht nur deshalb, entsteht vielleicht ein Vakuum der starken Hand, die das übriggebliebene Elend verwaltet und leider noch ein bisschen mehr und immer mehr, bis  der Teufel sich doch noch richtig gebiert als Diktator oder Terrorist.

Der  Hafen von Tanger ist uns tagelang Heimat. Ibrahim ist misstrauisch und will nicht im Hotel, sondern im Lastwagen schlafen. Ich mache es mir zwischen den noch leeren Oelkanistern im Heck des Mitsubishi bequem, auf dem Parkplatz der Hafenmoschee, nur durch blaue Gitterstäbe voller Schlupflöcher von Ibrahim getrennt. Die Parkwächter sind unsere Freunde, die frittierten Fische mit Reis in den Hafenkaschemmen unsere Nahrung, bis auch zu Ibrahims Überdruss. Und Tanger offenbart sich als Stadt von Städten. Kommt man mit dem Schiff an, täuschen einem die grünen Hügel zur Seite eine Kleinstadt mit etwas modernem Anbau vor. Doch Tanger ist beinahe eine Millionenstadt. Jeden Tag zeigt sie uns ein neues Gesicht. Und Abdulatif, der so tief Gefallene, zeichnet mit grossem Schwung die grossartigen Projekte auf die Serviette, die Tanger noch grösser und grossartiger und noch wichtiger machen werden, Strassen, Bahnen, Häfen, wunderbare Dinge, an denen er als Gebrochener nicht mehr in im adäquater Weise mitwirken kann.

Tanger Hafen

Eines Abends im Hotel warte ich auf Ibrahim und er kommt und kommt nicht zurück vom Telefonat mit seiner Tochter in Mauretanien. Meine Sorge um einen erwachsenen, kräftigen Mann steigt und steigt, bald werde ich ihn suchen müssen, da kommt er doch noch. Er ist niedergeschlagen, hat sich verirrt und sagt, „je suis perdu.“

Schliesslich übernimmt denn doch der erste Transiteur den Fall. Und als der Lastwagen am Quai vor dem offenen Schlund der Fähre wartet, zurück nach Spanien, müssen wir sein Heck permanent im Auge behalten, damit die Buben und jungen Männer, die es bis hierher geschafft haben, sich nicht im Computergerümpel zu verstecken versuchen. Als ich mich des Experiments halber mal etwas entferne, hängt sofort einer an der Laderampe und ist schon halb unter Plane verschwunden. Ich muss ihn von seinen Hoffnungen wieder entbinden und herunterholen.

Doch alles kostet Tage an Zeit und Geld, Ibrahims Geld, das schliesslich zur Neige geht nach der Überfahrt zurück nach Algeciras und weiter über Land nach Cadiz, wo die Schiffe nach Mauretanien fahren. Und als der Lastwagen schliesslich im Hafen von Cadiz steht, parkiert vor der riesigen Fähre nach Las Palmas, da kann Ibrahim dessen Transport nicht mehr bezahlen, denn nicht wie sonst für ihn gewohnt und durchaus üblich danach, sondern zuvor will der Spediteur Cash sehen. Es bleibt uns nur, möglichst rasch „meinen“ Mitsubishi nach Mauretanien zu fahren und zu Geld zu machen, um damit dem Lastwagen das Schiff zu spendieren.

Cadiz Hafen

Cadiz ist wohlhabend, schön und aufgeräumt. Cadiz ist der Ort, wo die reichen Mauretanier ihren extraterritorialen Stützpunkt haben. Cadiz ist ein Traum von Ibrahim, der Traum vom erfolgreichen Geschäftsmann zwischen den Welten, vom Atlantik auf drei Seiten umspült, am Ende von Spanien und am Ende von Ibrahims Ressourcen. In Cadiz scheint es keine Marokkaner zu geben, nichts Arabisches, ausser vielleicht die unsichtbaren reichen mauretanischen Landsleute. In Algeciras dagegen war es schwierig, an der Hafenfront Alkohol zu trinken, fast alle Geschäfte und Restaurants sind in arabischer Hand, sogar Tunesier haben sich eingefunden. Doch Ibrahim ist glücklich in Cadiz, ist froh nur Spanier zu sehen, hat richtig die Schnauze voll von allem Arabischen, von marokkanischen Zöllnern, Transiteuren und Ganoven, die ihm Geld abknöpfen.  Und Ibrahim hat auch genug von der fast ausschliesslichen Präsenz von Männern im Hafen von Tanger. Ja, Ibrahim ist Schweizer, das ist er sich nicht mehr gewohnt, die Frauen nur zu sehen, wenn sie den Abfall aus dem Haus tragen und über die Böschung schmeissen.

Und Ibrahim sagt, in Cadiz würde er gern leben. Doch ich mache  ihn darauf aufmerksam, dass die Leute hier abends vor allem vergnügt neben Schweineschinken stehend Alkohol trinken. Mich freut das zwar, Ibrahim aber weniger, und erinnert ihn bloss daran, dass er bis jetzt und vor allem jetzt, nur zwischen den Welten steht, ohne Erfolg. Doch Kaedi? Hilft vielleicht Kaedi, kann er wenigstens da ankommen, wieder ankommen?

Von Cadiz geht es zurück bis Tarifa, dort mit der schnellen Fähre wieder übers Meer, dann rasch weg von Tanger, ich mag es, Ibrahim hasst es verständlicherweise immer noch. Dann auf die mautpflichtige Autobahn, ein Refugium für die Gutsituierten. Und auf der fast schon europäisch modernen Autobahnraststätte sollte doch eine Strassenkarte zu erhalten sein. Doch nichts da, keine Karten. Aber eigentlich unnötig, denn es geht ja einfach immer nach Südsüdwesten, der Himmel ist klar, auch der Tag offenbart seine Lichtquelle. Aber der Kellner reicht uns als Ersatz eine Tellerunterlage mit einigen sehr rudimentären kartographischen Hinweisen, nicht zu vergleichen mit dem, was in der Schweiz unter jedem Teller Pommes frites in der Skihütte zu finden ist. Dann geht es zügig weiter, Tag und Nacht, durch ein immer weniger grünes Marokko, schliesslich durch 2000 Kilometer Wüste, ich fahre, Ibrahim hat keinen Ausweis, nur Sorgen. Aber lachen tun wir trotzdem.

Marrakesch

Ich fülle schon mal den einen Reservekanister mit Diesel und trotz den Sorgen führen wir angeregte Gespräche, schon immer, auch in Tanger, das lenkt ab und ist angenehm. Wir sprechen über Steiss, über Abdulatif, über die Saharauis und die Polisario, die uns mit ihrem Radiosender begleiten, deren Land wir durchqueren und deren widerständige Meinung die Menschen uns laut und deutlich vortragen, vor allem mir, von Ibrahim übersetzt, auf dass dies annektierte Land nur nicht vergessen wird. Und wir sprechen von Kaedi, das immer näher kommt, das Ibrahims Angst und Hoffnung zugleich aufnimmt.

Die Westsahara ist für europäische Wahrnehmung ein leeres Land, eine gleichförmige Wüste. Es ist offensichtlich, dass die Bewohner dieses dünn besiedelten Landes keine Chance hatten, sich gegen das ungleich stärker bevölkerte und auch andersartige, fruchtbar grüne Marokko zu erwehren, nachdem die Spanier 1975 ihre ehemalige Kolonie aufgaben und den gierigen Nachbarn überliessen. Hassan II. versuchte mit dem propagandistischen Grünen Marsch, einem Ansiedlungstreck von über 300000 Marokkanern, den marokkanischen Anspruch auch bevölkerungsmässig durchzusetzen. Ein oberflächlich betrachtet leeres Land, das auch heute noch nur 350000 Einwohner zählt, wurde annektiert, und geriet in die Interessenmühlen der drei Nachbarn und jene des kalten Krieges. Mauretanien zog sich später zurück, um die Beute Marokko zu überlassen. Algerien beherbergt noch heute das Hauptquartier der POLISARIO und die meisten saharauischen Flüchtlinge.

Westsahara

Und so fahren wir an neuen Siedlungen vorbei, die leer stehen, an der Strasse in der Wüste und an solchen, die an Westerndörfer erinnern, breite Strasse, wenig Häuser, ringsum Wüste. Doch diese Strasse in der Wüste hat zur Rechten immer den Atlantik und darin schwimmt der Reichtum der Westsahara, Fische. Und die Wüste selbst gibt viel Rohstoffe her, vor allem Phosphat, das auf endlos langen Förderbändern zur Verschiffung ans Meer transportiert wird. Für diese Schätze hatte sich der verstorbene König Hassan II. wohl am meisten interessiert. Die Bewohner waren allerdings lästig und sind es bis heute. Ibrahim fühlt sich ihnen verbunden und tatsächlich tragen viele Leute mauretanische Gewänder, sprechen einen eigenen Dialekt haben Gesichter, die eher an jene der hellhäutigen Mauren erinnern und spielen im  Radio dieselbe Musik wie die Mauretanier; blechige Gitarrentöne, die stark an die bei bei uns bekannte Musik aus Westafrika erinnert. Und betrachtet man Karten, Klima und Topographie würde man dieses Land wohl ebenfalls eher zu Mauretanien als zu Marokko schlagen.

Es war durchaus eine gute Idee, den Lastwagen über Land zu transportieren, denn so hätte er in Mauretanien eingeführt werden können ohne sofort Zoll zu entrichten, was Zeit geschaffen hätte, schon mal etwas zu verkaufen, vor allem die Computer, die in Mauretanien sowieso zollfrei sind. Doch nun muss nicht nur der Transport per Schiff teurer bezahlt, sondern am Hafen in Nouakchott oder Nouadibou auch der Zoll vor Übernahme des Lastwagens entrichtet werden. Und ich hoffe mit Ibrahim zusammen, dass, wenn nicht der arabische Schlüssel, dann vielleicht der etwas spezifischere mauretanische Schlüssel hier vielleicht einige Türen öffnen kann.

Doch vorerst halten uns noch die marokkanischen Polizisten an, und ich kann sie nur wärmstens empfehlen. Alle reichen einem die Hand, fragen freundlichst nach Befinden, Her und Hin und immer nach dem Beruf. Marokkanische Polizisten scheinen eher vom Ministerium für Tourismus angestellt zu sein. Egal ob man überladene Lastwagen via Sicherheitsstreifen überholt, oder das 60er Schild in der Wüste, 500 Meter vor der mit drei Häusern begleiteten Tankstelle mit 80 passiert hat (stolz bekommt man das Messergebnis auf dem modernen Messgerät gezeigt). Milde und Güte herrschen vor und ermöglichen es, den bestmöglichen Eindruck von den staatlichen Organen dieses Landes zu erhalten.

Überhaupt darf ich auch vom marokkanischen Verkehrsteilnehmer nur Gutes berichten. In der Stadt halten sich alle an das Tempolimit 40 und fahren gesittet und entspannt, zweifellos auch durch das allgegenwärtige Auge des Gesetzes immer heftigst angemahnt. Da sind zum Beispiel Aegypter von der andern Seite Nordafrikas ein ziemliches Stück forscher in ihrem Verkehrsverhalten. Denen fehlt auch diese königliche Melancholie. Mubarak schaut eher grimmig und entschlossen von seinen Plakaten herab.

Und wenn man also auf der schmalen und wenig befahrenen Asphaltstrasse immerzu fährt und fährt, erreicht man die Grenze, das heisst, erst das Niemandsland, drei Kilometer ohne Strasse, noch immer mit Minen gespickt, Reste des Krieges zwischen Marokko und Mauretanien um die Westsahara. Es heisst, man solle nicht vom Weg abweichen, doch der Wege sind viele, und dass nicht alle nach Mauretanien, aber vielleicht ins Paradies führen demonstrieren drei Wracks gleich zu Beginn.

Auf der andern Seite dann, nicht im Paradies, warten die mauretanischen Polizisten und ein paar Meter weiter die Zöllner in ihren Verschlägen. Etwas ist anders, nicht nur die Hautfarbe. Der Ton vielleicht?  Barscher oder stolzer? Auch das Tenu ist praktischer und militärischer, aber die Stiefel ziehen die Staatsdiener hier gern aus und deponieren sie vor der Hütte. In Mauretanien repräsentiert sich die Staatsmacht eigensinniger, weniger berechenbar und hockt in Hütten, nicht wie in Marokko in Steinhäuschen. In Mauretanien herrscht eben kein König, dafür beginnt Kaedi zu wirken. Kaedi ermöglicht es uns, direkt nach Nouakchott durchzufahren und nicht den Konvoi abzuwarten, der zur grossen Zollstation, 60 Kilometer weiter nach Nouadibhou führt und Zeit und Geld kostet. Ibrahim verdankt es dem Offizier, selbstredend aus Kaedi stammend, mit ein paar Euro, nach dessen Entscheid, nicht zuvor.

Zoll

So geht es zügig weiter. Weitere 600 Kilometer durch die Wüste auf bester, neuer Asphaltstrasse. Wir sehen den riesig langen Zug, der Erz aus der tiefsten Wüste an den Hafen von Nouadibhou karrt, einer der drei grossen Schätze dieses Landes, akkumuliert im herausgeputzten Cadiz? Neben der Strasse sieht es ärmer aus, Hüttensiedlungen begleiten das neue Aspahltband, und Tankstellen, etwas weniger raffiniert als die marokkanischen, die auch schon recht rudimentär waren. Die Strasse aber ist schlicht perfekt und führt uns durch eine abwechslungreichere Wüste als die Westsahara. Früher führte der Weg über hunderte Kilometer dem Stand entlang, den man grösstenteils nur bei Ebbe befahren konnte und dabei tunlichst vermeiden musste, nicht steckenzubleiben, bis die Flut einen in unerwünschter Weise befreite.

Dann vor Nouakchott erwartet uns die erste Polizeikontrolle, und Ibrahim ist ganz erfreut. Denn Sicherheit ist ihm wichtig, Sicherheit, dass der Umsturz vor ein paar Monaten nicht zurückgestürzt wird und der alte Herrscher in Katar im Exil bleibt. Immerhin fahren wir verdankenswerterweise auf dessen Superstrasse. Doch auch die Putschregierung hat sich einiges vorgenommen. Der neue Präsident will nach ein paar Jahren zurücktreten und einem sauber gewählten Oberhaupt Platz machen. Wir werden sehen.

Vor Nouakchott

Der Polizist gibt uns wie die Marokkaner die Hand, interessiert sich dann aber sofort für Ibrahims Tranistorradio. Er lehnt sich herein und befiehlt es sanft zu sich, um es minutenlang zu kneten und seine grosse Sympathie für dieses wunderbare Stück Elektronik wie einen Sermon herzusagen. Doch bekommen tut er es nicht. Wir fahren weiter und lassen ihn allein in seinem Verschlag zurück, wo zweifellos das Teewasser schon wärmer wird.

Irgendwann kommt jede Strasse an ihr Ende, das Ende dieser Strasse geht so. Mitten in der Wüste bekommt sie vier Spuren. Dann sieht man am Horizont die ersten Häuser von Nouakchott, die reichen Viertel, die Wände weiss. Ein paar Kreisel, der Verkehr nimmt zu. Dann Beginn der aermeren Viertel, der überwiegenden Mehrheit der Viertel, und fertig ist der Teer, der Goudron, wie man hier andauernd auch in Arabisch sagen wird, sinngemäss etwa, “nimm den Goudron etwa 300 Meter weit, dann links ab“. Eben dieser Goudron fehlt in dieser Stadt grösstenteils, allergrösstenteils. Strasse heisst hier erst mal Lagerstätte für Abfall, der dann von den Eselkarren und von Autos plattgewalzt und im Sand vergraben wird. Doch nicht alles ist Abfall. Plötzlich kann sich aus einer Reihe scheinbar deponierter Schrottautos eines beleben und sich wieder in den Verkehr eingliedern. Es ist kein Vergleich zu arabischen Ländern, auch wenn man arabisch spricht. In Nouakchott ist fast alles richtig armselig und dreckig, aber die wenigsten Bewohner wissen das wohl. Verkehrsregeln und auch Verkehrspolizisten sind nicht ersichtlich, was aber durchaus angenehm ist. Nachts stehen Pannenfahrzeuge unbeleuchtet mitten auf dem Goudron und nicht im Sandstreifen daneben. Dieses Phänomen zeigt sich mehrmals, als ob System dahinter steckt. Doch solch ein Hindernis ist weniger aergerlich als die hohen Sandwälle die plötzlich im Wege stehen und nur stellenweise über schon ausgefahrene kleine Pässe überquert werden können. Es sind Relikte aus der Zeit des Umsturzes, als die Bauarbeiten für die Teerung einiger Abschnitte bis zum heutigen Tag zum Stillstand kamen. Doch rasch gewöhnt man sich an vieles, nicht alles. Und grad der Verkehr ist der Löcher und Wellen wegen in seinem eigenartig jahrmarktartigen Auf und Ab sowie Hin und Her für mich als Tourist durchaus heiter.

Stadt

Nouakchott wurde nach der Unabhängigkeit zur Hauptstadt gemacht, des Kräftegleichgewichts wegen und wuchs in knapp 50 Jahren vom Dorf zur knappen Millionenstadt in der Wüste heran. Die meisten Bewohner von Nouakchott sind nicht hier geboren. Nouakchott ist der Ort, wo man hin muss, um Geschäfte oder Politik zu machen und danach möglichst rasch wieder ins Dorf zurückkehrt. Nouakchott sagt, wir sind Mauretanier, wenige sind weiss, die meisten schwarz. Früher waren wir auch  Sklavenhändler, heute verkaufen wir Erz und Fisch und bald auch Oel, einige wenige jedenfalls, die andern wohnen in den Dörfern und warten auf ihre Söhne und auf Brosamen von diesem versteckten, für einfache Leute nicht ganz einfach interpretierbaren Reichtum. Und Nouakchott sagt, wir sind nur drei Millionen in diesem Land von einer Million Quadratkilometern. Wir wohnen nicht in Städten, wir wohnen in Zelten, wir wollen gar keine Stadt, aber leider müssen wir eine haben, heutzutage müssen wir eine haben, aber nein, interessieren tut uns eine Stadt nicht, sie ist dreckig und hässlich, weil sie uns eben nicht interessiert.

Nouakchott, am Meer und in der Wüste gelegen, sagt auch über seine Erbauer, wir interessieren uns nicht für Fischfang, denn wir sind Söhne der Wüste. Es sind die Senegalesen und Togolesen, die in pittoresken Booten den lokalen Fischfang betreiben, derweil russische oder japanische Fabrikschiffe von den vielen Fischen vor der Küste etwas abschöpfen, wahrscheinlich zuviel, so Ibrahim, der als Maler und Alibimauretanier auf einem russischen Trawler mitgefahren ist. Und die Bewohner aus den südlichen Nachbarländern, die möglicherweise schon die Mehrheit in dieser Stadt stellen, die sieht man auch handwerklich arbeiten, Metall, Holz, Elektrik sowie auch Transport und Dienstleistung in noch handfester Weise, nämlich als Eseltreiber und Hausangestellte.

Brunnenhaus

Nach dem Umsturz liess der neue Präsident die Strassen reinigen, das ist jetzt einige Monate her. Aber es gibt auch Wichtigeres zu tun, zum Beispiel den Oelminister verhaften, der noch aus dem Bestand des alten Regimes übrigeblieben ist, und die Einnahmen für anderes vorgesehen hatte als den Staatshaushalt, nämlich die Bestückung privater Bankkonten in andern Ländern, vielleicht auch in der Schweiz. Da aber in Erwartung von etwaigen Mehreinnahmen, schon höhere Gehälter an Staatsbeamte ausbezahlt und diverse Ausgaben getätigt wurden, muss nun Geld vorerst noch auf andere Weise eingetrieben werden. So sind die Zollgebüren erhöht worden, auch für Ibrahims Lastwagen. Das ist der Preis fürs Reinemachen. Der Präsident hält eine Ansprache im Fernsehen und verspricht, den luschen Vertrag mit Woodside, der Firma, die im Februar als erste mit der Oelförderung im Schelf hätte beginnen sollen, aufzukünden oder neu zu verhandeln.

Das sind die Geschichten, die das Oel schmiert. Und Mauretanien wird so in neue Welten getragen. Noch vor wenigen Jahren hat in Nouakchott niemand sein Geschäftslokal abgeschlossen. Und auch wenn das sich  geändert hat Ich hatte keine Angst, hier beraubt oder belästigt zu werden. Gastfreundschft, Sanftmut und gesunder Stolz herrschen vor und nicht zuletzt ist Mauretanien ein Islamische Republik, das hat für Europäer  auch Vorteile.

Wir kommen unter bei einer Bekannten, Exfrau des Gouverneurs von - natürlich - Kaedi. Sie liegt den ganzen Tag in den Kissen, den ganzen Tag, so ist das hier mit den Frauen, den wohlhabenden jedenfalls. Sie ist die Vorsteherin eines besseren Hauses, hat aber trotzdem keinen Goudron vor der Tür. Und ich entdecke, dass westliche Einrichtungen wie Badezimmer auch bei entsprechenden Mitteln, nicht wirklich geschätzt werden und wie Fremdkörper wirken. Doch immerhin, wir müssen unsere Notdurft nicht auf der Strasse verrichten. Dafür bringt uns der Diener alle Viertelstunde Tee und alle drei Stunden ein üppiges Mahl und Ibrahim versichert mir, dass die Ziege nicht vom Verschlag draussen auf der Staubstrasse kommt, wo sie Fliegen bedeckt hängen. Und wenn auch, ich bin zufrieden und  herzlich aufgenommen in diesem Haus, dessen Tür Tag und Nacht offen ist.

Es gibt in dieser Stadt fast nichts für Touristen. Zwei, drei teure Hotels sind die einzigen Orte, wo man mit Kreditkarten bezahlen kann, weder auf der Bank noch bei Fluggesellschaften weiss man etwas damit anzufangen. Restaurants oder Cafes gibt es nur einige wenige in den reichen Vierteln, wo auch Internetcafes zu finden sind, ein Cyber, wie man das hier nennt, wo vom Aufpasser auch darauf geachtet wird, dass es anständig zu und her geht auf den Bildschirmen. Und als Europäer wird man ausserhalb des Hotels beinah keinen andern Europäer treffen. Einen jungen Mann habe ich gesehen, einen, von weitem.

Schüsselfabrik

Trotz der also netten und sympathischen  Unterbringung, beginne ich wieder vermehrt von Schweinskoteletten auf einem eigenen Teller zu träumen, dazu vielleicht einen Beaujolais, finde ich nicht schlecht zu Schweinefleisch, und richtig stabile Gabeln und Messer, so wie in französischen Filmen, die sich mit den Katastrophen der Bourgoisie beschäftigen, was für eine schöne besoffene und lächerliche Welt, ich vermisse sie, diese Welt weit weg. Hier dagegen Tee und Harmonie, freundliche Menschen, die einem bedingungslos und freudig Gastfreundschaft gewähren und erstmal nur von einem reden, Kaedi, Kaedi, Kaedi.

Was nur würde Steiss zu all dem meinen? Er wäre der dickste und kleinste erwachsene Mensch weit und breit und könnte aber immerhin den weniger muslimisch angezogenen schwarzen Frauen aus Senegal nachschauen, denn der dicke Steiss, verheiratet mit der ebenso dicken Frau Steiss, mag gerne Frauen hinterherschauen und hat auch, das ist wahr, durchaus Charme. Steissens Wurstfinger im Couscous mit vierzig andern schwarzen Fingern am Ziegenrücken zerrend?

Tag und Nacht treffen wir alle Cousins, die hier ihr Leben fristen und leider nicht in Kaedi sein dürfen, und es wird beratschlagt, was denn zu tun sei und natürlich wird Tee getrunken und vor allem zubereitet, denn dies scheint wirklich die Hauptbeschäftigung der Leute in diesem Land zu sein, Tee zubereiten, endlos wird hin und her geschüttet und schlussendlich ganz rasch getrunken. Auch in Büros, an Bankschaltern (es gibt, glaube ich, nur eine Bank in Nouakchott) am Flughafen, Tee, Tee, immer Tee. Nach dem Tee vielleicht ein Spaziergang oder Spazierfahrt, um Grundstücke und Häuser anzuschauen, denn dies ist Ibrahims, wie auch manches Schweizers wahrer Reichtum, Immobilien. Als Nouakchott zu Hauptstadt erkoren wurde, gab es als Zückerchen billig bis gratis Grundstücke für die Dörfler, auch für Ibrahims Vater und Grossvater. Das zahlt sich nun aus, und vielleicht wird der Verkauf eines Hauses noch zur ungeliebten Notlösung, um den Lastwagen nach Afrika zu bringen.

Grundstück

Und der Bruder hat das Geld auch nicht, denn der Bruder ist das Gegenstück zu Ibrahim und auch ein Dauerbrennerthema bei allen Cousins. Der Bruder arbeitet viel und sogar erfolgreich in seinem Transportgeschäft, aber ist zu lieb und grosszügig mit seinen Geschäftspartnern und Fahrern, sodass alles Geld rasch wieder abfliesst oder in faulen Krediten verdunstet. Da würde Ibrahim allerdings härter durchgreifen. Vielleicht funktionieren sie wirklich nur zusammen, driften in der Welt herum ohne den andern Teil, einfach nicht komplett, einfach „perdu“.

Oft sitzen wir bei dem einen Cousin draussen vor dessen Holzwerkstatt und trinken Tee mit dem halben Quartier. Vor uns näher an der Strasse sitzt eine Frau, den ganzen Tag sitzt sie wie angewachsen da und verkauft gekochte Kartoffeln, süsse Nüsse und Früchte auf einem Holzschragen ausgebreitet. Sie ist der Kiosk für die Schüler, die in den Pausen aus der Schule gegenüber quellen und exakt dasselbe tun wie alle Schüler dieser Welt, Peergroups bilden und naschen.

Wenn zwei erwachsene Mauretanier sich begrüssen, tauschen sie ein bis zwei Minuten lang gleichtönende Protokollkfloskeln aus, in denen ganz formell der Zustand der Familie abgefragt wird und schauen dazu in verschiedene Richtungen, als wären sie vollkommen desinteressiert am Gegenüber. Dem Andern in die Augen schauen ist gefährlich, hat der Prophet gesagt. Doch ist der offizielle Teil vorbei ist, tritt auch der Prophet zurück, und die Blicke finden sich wieder, warm, freundlich, verführerisch.

Und natürlich besuchen wir auch Ibrahims zukünftiges Cyber. Das Haus, das ihm gehört, liegt im fünften Bezirk, wo es wirklich nur Staubstrassen gibt und kein anderes Cyber weit und breit. Entweder wird es keine Kundschaft haben, weil die Menschen zu arm und auch zu wenig alphabetisiert sind, oder es wird tatsächlich ein Bedürfnis befriedigt werden. Die Leute jedenfalls fragen dauernd, wann es denn soweit sei, denn das Ladenlokal ist schon entsprechend beschriftet, die alten Computer und Kopierapparate aus der Schweiz von einem früheren Transport schon aufgestellt. Es fehlt nur noch der Finish und die Klimaanlage, die weit weg in Cadiz auf die Verschiffung wartet.

Cyber

In Kaedi warten sie derweil jeden Tag, warten auf Ibrahim und seinen Freund. Seit Tagen, ja bald Wochen eilen die Eltern bei Staub am Horizont erwartungsvoll zur Strasse. Die Enttäuschung ist gross, dass mir keine Zeit mehr bleibt, den Ort zu besuchen, der wirklich zählt, der sozusagen wirklich ist, das Dorf in der Provinz Kaedi, Ort der Liebe und auch Ort der Sorgfalt und Sauberkeit, die Nabe von Ibrahims Mühle. Dort könnten wir beide ganz Mühle sein und Don Quichotte hinter uns lassen. Dort wären sie überhaupt froh um neue Mühlen und auch  Pumpen und Schläuche, Dieselmotoren oder Solarpanels.

Dafür besuchen wir einen weiteren fernen Verwandten aus Kaedi, den Sekretär des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, vielleicht der wahre Schlüssel für das Lastwagenproblem. Und ich glaube, da weiss man etwas anzufangen mit Badezimmern, auch wenn ich es nicht benutzt habe. Doch der Herr des Hauses ist nicht da, Staatsbesuch aus Mali, schade. Das Jackett wäre für ihn gewesen.

Zukunft

Tanger hat uns Zeit gekostet und ich fliege ab, ohne Kaedi besucht zu haben. Der Flughafen ist eher Hangar, das Personal mürrisch, keine flotten hübschen  Groundhostessen, nur ein älterer Herr mit einer derart schief sitzenden Brille, dass ich wirklich Angst habe, sie könnte ihm jeden Moment von der Nase rutschen und vom Förderband zermalmt werden. Das brächte dann sicher unangenehme Verzögerungen für mein Check In, einem hier etwas unpassenden Begriff. Es ist mehr eine Art Spiessrutenlaufen vorbei an mürrischen, faulen, sicherlich zur Bösartigkeit neigenden Uniformierten. Ohne Ibrahim verabschiedet sich das Land etwas unfreundlicher. Aber wenn ich an manche Schweizer Grenzbeamte denke...

Im Warteraum teile ich meine Biscuits mit dem Verkäufer derselben, einem jungen Mann der mit mir über zwei Dinge spricht. Erstens würde er gern mal nach Paris fliegen, er hat da eine Tante. Aber so nah er diesem Traum physisch ist, schwierig, schwierig. Er meint schmunzelnd, vielleicht im Flugzeugpneu drin... Das zweite ist diese Karikaturengeschichte, von der ich glücklicherweise auf der Reise fast gar nichts mitbekommen habe und darum auch nichts richtig Fesches dazu sagen kann, was ich später nach Aufarbeitung der Zeitungsberichte sowie Rotwein und Schweinefleischkonsum ganz gern gemacht hätte. Allerdings hatten die Zöllner sich doch sehr interessiert für einen harmlosen Roman mit der zeichnerischen Abbildung von zwei Herren auf dem Cover, aber Ehrenwort, keiner von beiden war der Prophet, wahrlich nicht, wahrlich, es wahren nur elende englische Biertrinker.

Ibrahim blieb zurück, endlich daheim, fast daheim, fast in Kaedi und war im Moment des Abschieds ganz allein. Der mauretanische Schlüssel ist nicht so golden, wie er glänzt. Der Ministerialsekretär nicht zu Hause, der Bruder ohne flüssiges Geld, die vielen Freunde zwar herzlich aber halt doch arm, die hellhäutigen maurischen Autohändler garstig im Verhandeln. Die Eltern, sie warten. Kaedi, es wartet, aber aus der Nähe wartet es jeden Tag etwas gleichgültiger, etwas hilfloser und  ratlos wie Welt so ist, voller Tee, voller Liebe, aber einfach ratlos. Doch Inshallah, ich bin ein schlechter, hässlicher Schweinefresser, wie rede ich nur, es kommt schon gut.

Und später, wenn ich ihn aus Zürich in Kaedi anrufe, wird Ibrahim bester Laune sein, wird daheim sein, auch wenn der Lastwagen nur langsam, durch immer neue Probleme verzögert, an seinen Bestimmungsort dampft, Papiere ihre Gültigkeit verlieren, Mieten ausstehend bleiben, Frau und Kind warten, Windräder sich in ganz unterschiedlichem Tempo drehen, und Ibrahim Woche um Woche länger und länger bleibt, in Kaeidi, in Nouakchott, in Nouadibou, dazwischen Tee trinkt, Fisch und Reis isst und dann, wenn er nach Monaten endlich wieder zurück ist, blank von allem Geld, auch hier Tee trinkt und trotz allem Ungemach immer noch träumt vom grossen Geschäft, von den afrikanischen Möglichkeiten, dem schlummernden Reichtum und mit mir und Steiss zusammen, von Kaedi.

Ich fliege heim, meine Grosseltern waren auch Bauern. Immer wieder habe ich dies Ibrahim erzählt, dass auch ich ein Fremder bin, dass auch ich nicht in dem Haus lebe, wo ich geboren wurde, dass auch mir das Dorf noch am Herzen liegt, dass er nicht allein im Wind steht. So drehen sich alle unsere Windräder, doch Ibrahims Rad ist sehr gross und weitgespannt, es fängt  sehr viel Wind ein auf 8000 Kilometern. Ich hab nur 80, Steiss nur 800 Kilometer. Es ist halt schon verdammt weit weg, dieses Kaedi.

Air Maroc lässt seine Fluggäste von Frauen bedienen, ganz normalen Flugbegleiterinnen in einem Hosenanzug. Das ist sehr angenehm. Auch neben mir sitzt eine Frau, jung und hübsch und taubstumm. Ich träne so dahin, da  stupst sie mich an. Ich mache ihr Platz, sie muss aufs Klo und ich habe feuchte Augen, nicht wegen einer Frau, wegen zwei Männern, die im Lastwagen durch Spanien fahren. Und als ich mich auf ihren Fensterplatz setze und hinausschaue, sehe ich sie wirklich, la Mancha.

Karte

"Don Quichotte aus Kaedi"
von Heinz Emmenegger
Frühling 2006

Die Vorgeschichte in der Wochenzeitung findet sich in der Rubrik Presse

Der Statthalter
Zwischenreise, 2007

als PDF

 
Die Sonne scheint, zuvor hat es geregnet in Schwerzenbach. Steiss, Toni und der Statthalter sitzen nebeneinander auf dem Radkasten  eines Autotransportanhängers. Darum herum stehen die zu transportierenden Autos in diversen Zuständen des Verfalls, doch immer noch zu verkaufen, die besseren hier, die mittelguten in Serbien, die schlechteren in Afrika. Die drei Herren sitzen in der vermeintlich geschlossenen Welt des Autoexports, wo Rudimentärdeutsch zwar lingua franca, der Statthalter aber der einzige originäre Schweizer weit und breit ist. Rundherum ist Vorstadt, unschön gewachsene Vorstadt, breite, aber krumme Strassen, Riesengebäude sowohl für Produktion wie Konsumation, dazwischen Brachland, eine architektonische Hölle oder doch ein Ort der Inspiration?

Steiss trägt einen überhängenden Bauch vor sich her und heisst eigentlich Staic. Sein mürrisches kleines Gesicht versteckt ungeahnte Freundlichkeit, seine dicken Finger sind fähig, rasch aufeinander Buchstaben zu einer SMS zusammenzustellen. Um Tonis schwarzen Hals baumelt ein Kreuz. Toni ist klein wie Steiss, trägt aber anstatt Bauch sehr viele Muskeln mit sich herum, geformt von der täglichen Arbeit mit Altpreifen, welche er in seine Heimat Nigeria verkauft. Der Statthalter schreibt diesen Bericht und hat vor einer Woche für seinen in Mauretanien weilenden Freund Ibrahim die Platzmiete von Toni eingetrieben, der die 1700 Franken mit ein paar Bündeln Zwanzigernoten beglich. Davon  bezahlte der Statthalter 700 dem Türken, der auf dem Areal ein Lebensmittelgeschäft mit daran angeschlossenem Restaurant führt und den an Ibrahim vermieteten Platz wiederum vom Schweizer Grundbesitzer gemietet hat. Toni hat also drei Platzherren über sich. Ibrahim zwei bis einen. Steiss einen.

Der Statthalter muss aber nun nicht mehr Statthalter für Ebene 4 sein, denn  Ibrahim ist zurück. Der Statthalter hat ihn am Flughafen abgeholt, als er von Nouakchott über Casablanca nach Zürich zurückkehrte, in der Aktentasche ein paar tausend Euro. Noch dunkler war er geworden, noch stärker zeigte das Weiss seiner Augen, dass er den Statthalter suchte, um von diesem  empfangen zu werden.

Sahbis verlorenes Paradies

König wurde Ibrahim schmeichelhalber von Sahbi genannt. Sahbi ist Libanese, etwa 50 und trägt bei diesem Regenwetter einen kecken, breitkrempigen Hut, es ist der Hut eines Mittelmeerkindes, der einen Lexus fährt, seine Geschäfte aber in einem schäbigen alten Wohnwagen abwickelt und nicht mit Zwanzigernoten, sondern scheinbar ausschliesslich mit Tausendernoten bezahlt, die er in Bündeln in seinem Hosensack mitführt. Akute Platznot hat ihn dazu geführt, sich bei Ibrahim auf Ebene 3 und 4 einzumieten.  Sahbi und Ibrahim sind die weitaus elegantesten Personen auf diesem Platz. Zehn Meter entfernt von Steiss, Toni und dem Statthalter, schreien sie sich an, lange und laut schreien sie arabisch aufeinander ein, sodass wir drei nichts verstehen, aber doch wissen, worum es geht. Wir warten, sie schreien in ihrer Muttersprache, die Mütter  5000 Kilometer voneinander entfernt, die Söhne einen Meter, die Sprache fast null.

Toni steht auf, hält ein kurzes, eindringliches, und ebenfalls sehr lautes Referat vor Steiss und mir, um nochmals zu unterstreichen, was für ein schlechter Mensch der Libanese sei, denn was hat er zu Ibrahim vor ein paar Wochen gesagt: „Ibrahim, der Libanese wird dich betrügen.“ Dann setzt er sich wieder, entspannt sich und harrt mit uns zusammen still auf den Ausgang des lauten Disputs auf Ebene 4. Tonis Temperament, kombiniert mit den fahrigen Bewegungen seines Muskelarms, würde Ungewohnte zweifellos in Angst und Schrecken versetzen. Steiss, der Statthalter und all die andern durchweg männlichen Benutzer dieses multikulturellen Arbeitsplatzes nehmen es aber gelassen. Toni kann nicht anders, er teilt diese für europäische Gemüter aggressiv wirkende Streitkultur mit seinen Landsleuten, die alle laut und bewegungsreich ihre Kontroversen austragen.

Toni kämpft um seinen Platz und schreit. Sahbi kämpft um sein Geld und schreit auch. Toni und Sahbi bilden eine unglückliche symbiotische Gemeinschaft. Sahbi verkauft seine alten Autos an Afrikaner, die sie mit dem Abfall unserer Gesellschaft füllen, der sich in Afrika rentabel auffrischen und wieder verwenden lässt. Sahbis Trumpf ist der Platz zu dem er normalerweise leichter kommt als die Afrikaner, es ist der Transport, den er organisiert und kontrolliert und die vielfältigeren Destinationen, die er bietet, denn Libanesen wohnen weniger in Libanon als auf der ganzen Welt.
 
Doch die Nigerianer würden sich gern emanzipieren. Toni hat von Ibrahim einen kleinen, etwas abgeschotteten Platz gemietet, den will er halten, und wenn er mit Steiss gut zurechtkommt, gibt ihm der vielleicht noch sein Stück gleich nebenan dazu. Auch Sahbi hat von Ibrahim Platz gemietet, den dieser wiederum von Steiss und andern Platzherren diverser Ebenen gemietet hat. Sahbi zahlt viel, er kann das oder gibt es zumindest vor, von Ebene 1 bis 4 kann sich der Preis gern verfünfachen. Sahbi musste seinen alten Platz für den Afrikahandel direkt am Bahnhof Oerlikon aufgeben und sucht einen neuen. Vor Ibrahims Abreise nach Mauretanien legte Sahbi ein paar Tausendernoten aus seinem Hosensack  auf den Gartentisch des Restaurants des Türken und forderte Ibrahim auf, Toni zu künden und dessen Platz ihm zu geben, denn: „Ibrahim, ich sage dir, Toni wird dich bestehlen.“ Und Ibrahim war diesem Vorschlag durchaus nicht abgeneigt. Doch die Kaskaden von Mietern und Untermietern wurden mit dem Einzug des Libanesen in ihrem Gleichgewicht empfindlich gestört. Zuviel Verkehr, Lärm, beschädigte Autos, Streitereien, eine Schlägerei sogar, der Platz ist in Aufruhr, Verantwortlichkeiten müssen nun lautstark geklärt werden.

Ibrahim ist Scharnier, wenn auch knarrend. Seine Haut ist dunkel wie die Tonis, seine Sprache arabisch wie jene von Sahbi, seine Pässe rot und grün, sein Volk schon immer eines der Herren und Händler. Salz, Sklaven, Gold mussten durch die Wüste geführt werden. Ibrahim, kindlich reingläubig, idealistisch, herzlich, schlecht alphabetisiert, gibt nie Trinkgeld, kann nicht in Hotels schlafen, verehrt Roger Federer, mag Ländlermusik, ist getrieben, Händler zu sein wie sein Volk, das die körperliche Arbeit früher lieber Sklaven und heute den senegalesischen Gastarbeitern überlässt, und er will Händler sein wie schon der Prophet, der seine Nächte draussen verbrachte, unter freiem Wüstenhimmel, inmitten seiner Ware.

Ibrahim ist gerne Herr, vor allem in seiner Heimat, und er kann Toni schroff und erstaunlich erfolgreich herumdirigieren. Doch Ibrahim kann auch 20 Stunden am Stück hart arbeiten, gehalten von sich selbst und Allah. So füllt er mit dessen Hilfe und der ganz menschlichen eines Senegalesen einen 40 Fuss Container übers Wochenende mit unverpackter Occasionsware auf;  CD-Player, Fernseher,  Computer, Velos und mit Kabelsalat gefüllte Kühlschränke.  Als Neuschweizer muss er sogar sagen, dass es für die Mauretanier  langsam Zeit wird, vom hohen  Kamel abzusteigen und sich dem Produktionsprozess zu widmen, so wie auch er in der Joghurtfabrik arbeitet, um dann doch bald wieder zurückzufallen in maurische Händlerträume.

Ibrahim ist komplex, sowohl als Mensch wie als Maure, ist manchmal ein- manchmal vielfältig und neigt zu Don Quichotterien, die der Statthalter als Sancho Panso nicht immer zu verhindern weiss. Bis anhin verlief Ibrahims Händlerkarriere nicht eben grossartig und endete meist verlustreich in von ihm selbst  durch Idealisierung weichgetrampelten bürokratischen Sümpfen. Die schweizerischen Gepflogenheiten des systematischen Mahnwesens kann er noch akzeptieren, marokkanische Forderungen auf unserer gemeinsamen Reise mit einem gefüllten Lastwagen in seine Heimat waren dann aber für ihn doch deutliches Zeichen für die Niedertracht dieses Volkes und weniger seiner vielleicht mangelnden Vorbereitung, die sich auf in diversen Autohändlerwohnwagen arabisch vorgetragene Gerüchte beschränkte. Zu einem weiteren Verhängnis könnte nun Ibrahims Bewunderung für die weltbekannte Händlerseele der Libanesen werden, also wahren Nachfolgern Mohammeds, Leute, die nie in einer Joghurtfabrik arbeiten, sondern, so Ibrahim, überall auf der Welt ankommend, von ihren Landsleuten erstmal mit ein paar Geldbündeln ausgestattet werden, um diese segensreich zu vermehren. Was dem Don Quichotte der Ritter, ist Ibrahim der Händler.

Ibrahim lachte mit dem Statthalter zusammen über sich selbst und meinte es doch ernst, als wir alte Chefsessel in den Container  luden, den er nach Nouakchott verschifft hat, um Wochen später mit den vielen Euros zurückzukommen. Die Chefsessel will er aufbewahren für unsere Rückkehr ins gelobte Land der Mauren. Ja, auch der Statthalter ist für Ibrahim ein Maure im Herz, ein „Ould“, ein Sohn eines Mauren. Und tief drinnen hofft Ibrahim sicherlich, er könne den Ungläubigen doch irgendwann bekehren zum rechten Glauben und mit dem Statthalter in diesen Chefsesseln sitzen, während eine maurische Frau im  landesüblichen  Gewand, einem indischen Sari nicht unähnlich, den beiden Herren anmutig den Tee zubereitet. Doch der Aufenthalt in Mauretanien, einem wirklich noch exotischen, staubigen und zuweilen dreckigen Land zwischen den Welten, weckte beim Statthalter ein starkes Bedürfnis nach Rotwein und Schweinefleisch, nach etwas Dekadenz und Verwerflichkeit, das konnte ihm auch die perfekte Gastfreundschaft mit Dauertrinken von Tee und Daueressen von Ziegenfleisch nicht austreiben.

Ibrahim besitzt in der Hauptstadt Nouakchott Grundstücke, bebaute, bewohnte und auch gänzlich brach liegende. Das ist der Voraussicht des Vaters zu verdanken, der nach der Unabhängigkeit Mauretaniens günstig bis gratis in dem damals als künstliche Hauptstadt ausgerufenen Fischerdorf Grundstücke erwarb. Und Mauretanien, ein armes Land, beginnt Oel zu fördern, hat eben korrekt abgelaufene Wahlen hinter sich, organisiert von einem noblen Putschgeneral, der sich selbst entmachtet hat. Ibrahim ist  jetzt ein eigentlich gut situierter Herr in seiner Heimat.

Hier aber verteilt er mit einem Handkarren Werbepost in des Statthalters gehobenem Wohnquartier. Wenn der Karren leer ist, füllt er ihn mit alten Computern, Fernsehern, Radios und was dieses schöne Quartier sonst noch auf die Strasse stellt oder dem „Afrikaner“ wohlwollend mitgibt.  Und auch dieser Bericht ist mit Hilfe eines Apparates aus Ibrahims Sammlung erstellt. Den Karren entlädt er im Kellerabteil eines  Geschäftshauses, dessen Parkplätze nur mit teuersten Wagen belegt sind. So treffen sich Geschäftsleute, die einen haben Fenster, die andern Holzverschläge.

Doch unterschätzen sollte man Ibrahim nicht, er wird reussieren, auch wenn er jetzt schreien muss, und es ein Fehler war, den Libanesen auf den Platz zu lassen. Denn Sahbi hat nicht wie versprochen den sauberen, leisen Handel mit Limousinen für Libyen aufgezogen, sondern den lauten, dreckigen mit den Afrikanern weitergeführt. Auch Sahbi träumt und kann sich doch nicht lösen von seinen Symbionten, den Nigerianern, die während Ibrahims Abwesenheit in Scharen auf den Platz kamen, um Lieferwagen zu begutachten, zu kaufen, zu füllen, zu schieben, zu leeren und dabei mit den Autos rundherum, den Autos der gemächlichen Serben, die ihr Geld in Häuser in ihrer Heimat angelegt haben, mit diesen Autos der Serben also so umgingen wie mit ihren eigenen, darüber wegsteigen, darauf Ware deponieren, kratzen, drücken, zerbeulen und auch mal was mitgehen lassen.

Sahbi will sein Geld zurück, denn er hat einen andern grossen Platz gefunden und die Serben wollten  ihn sowieso nie, wollen ihn nun sofort weg haben und bitte mit Entschädigung. Toni, selbst Kunde von Sahbi, hat sich gut gehalten, gut intrigiert, Sahbi schlecht hingestellt, sich lieb und anständig benommen, war ein guter Nigerianer, besser alles läuft direkt über ihn und nicht über den Libanesen, auch nicht über Ibrahim. Und tatsächlich, Steiss will seinen Platz Toni anstatt Ibrahim vermieten, mag Toni, wie er schon Ibrahim mochte. Toni  schafft viel, trägt Werkzeuge mit sich herum, ist Mechaniker, kann reparieren. Das gefällt Steiss, der weiss und es sagt, dass Ibrahim das nicht ist, dass Ibrahim kompliziert und durchaus etwas ungeschickt ist und auf der Reise nach Mauretanien keinen Gedanken an Kanister, Werkzeuge, Ersatzteile oder ähnliches verschwendet hat, sondern nur an gepflegte Kleidung.

Der liebe Steiss hat den Statthalter und Ibrahim nämlich bis Gibraltar begleitet, musste dann aber mit seinen serbischen Papieren kehrt machen. Es war ein seltsames Trio, nicht einzuordnen. Und Steiss würde in Mauretanien vollends aus dem Rahmen fallen. Einen solchen Wanst wie er ihn trägt, findet sich da unter den drei Millionen Mauretaniern kein einziger. Und Ibrahim und der Statthalter befürchten, er könnte vor der nächsten Gelegenheit dahin zu fahren, einem Kreislaufversagen zum Opfer fallen.

Sahbi sagte zu allen auf dem Platz, die vor der Schreierei mit Ibrahim sich neugierig versammelt hatten: „Ihr wisst was meine Arbeit ist. Meine Arbeit  ist, Dreck zu verkaufen. Das ist meine Arbeit. Also, was wollt ihr? Ihr habt es gewusst“. Alle nickten oder liessen ein Nicken ahnen, denn die Serben haben nicht die Gestik und Mimik von Toni, der diese Feststellung seines Symbionten mit jeder Muskelfaser unterstrich, damit klar war, dass er ein properer und verständiger Nigerianer war.

Von den libyschen Träumen hatte Sahbi nur dem Statthalter und Ibrahim erzählt. Aber es hat nicht viel Platz auf der Welt, weder für Autos, noch für Wahrheiten und das lässt sich manchmal nur schreiend ertragen und gilt für alle. Und auch der Statthalter konnte dem verqueren Lauf der Dinge nicht Einhalt gebieten, fleissig hat er telefoniert mit allen Beteiligten, hat versucht Grenzen zu erkennen, diese zu markieren, die Hierarchien auszugleichen, doch das Gleichgewicht ist gestört, einer muss gehen, der Libanese oder der Nigerianer.

Und der letztere scheint bessere Karten zu haben, endlich mal, warum nicht, auch wenn er mit einem Bündel 20er Noten bezahlt, die wohl etwas Waschpulver gebrauchen können, das damit wohl schon gekauft wurde. Toni hat sich eingerichtet, es ist ein Start up Unternehmen sichtgeschützt hinter Maschenzaun , Arbeitsplatz für Toni und seine Gelegenheitsarbeiter, die meisten schwarz wie er, einer davon, der Sudanese, etwas heller. Sie laden Reifen ein und um, stopfen vier Pneus ineinander, versuchen Sie das mal selber, es ist eine wahre Kunst. Und Toni legt sein Geld nicht auf Gartentische, sondern übergibt es heimlich, versteckt hinter dem Camion auf einen alten Kühlschrank hinzählend.

Der Statthalter war dies nicht nur für einen Monat und 3000 qm, er ist möglicherweise sogar zukünftiger Konsul von Mauretanien, dies als Schweinefresser und Weinsäufer. Denn Ibrahim ist sehr gut bekannt mit den entsprechenden Entscheidungsträgern im streng muslimischen Mauretanien. Unsere Reise dahin bedingt immer das Mitführen guter Kleidung, denn der Besuch beim Minister ist selbstverständlich. Als Halbalphabetisierter wird Ibrahim in der Funktion des Konsuls immer einen Sekretär benötigen, auch Mohammed konnte nicht schreiben und benötigte einen Aufschreiber für seine Eingebungen. Dies also kann doch kein Hindernis sein. Oder wird er den Posten direkt dem Statthalter übergeben? Es sind verwickelte Aussichten.

 





Bei  den Mauren
Zweite Reise nach Mauretanien, 2008

als PDF

Die Braut kommt mitten in der Nacht in unser Zelt, das Gesicht dunkel und unkenntlich wie die unbeleuchtete Luft darum herum, das Kleid weiss, das letzte Licht tragend. Sie bereitet Tee zu und schweigt.Wir trinken drei Aufgüsse. Des Mauretaniers Leidenschaft ist der Tee und die Zubereitung durch die Frau eine diskret erotische Darbietung. Ein paar Tage später wird sie von den Freundinnen der Braut versteckt, danach von den Freunden des Bräutigams in einem schwarzen Gewand gefunden, vom Ross herab dem Schwiegervater vors Zelt gelegt und von der Schwägerin mit Milch begossen werden.

Eselbrunnen

Die Schule ist sechs Kilometer entfernt. Draussen weht morgens ein starker Wind, der die Luft mit Sand füllt und die Sicht einschränkt. So liesse es sich leicht verirren. Das Dorf aber lässt niemanden allein, auch nicht beim Gang in die Büsche, um jenes Geschäft zu erledigen, dessen Ausübung der dauernde Teekonsum auf einmal pro Woche eindickt. Diese Büsche, holzige Stengel mit fleischigen, grossen Blättern, liegen 800 Meter vom Dorf entfernt. Dazwischen ist, im Januar, drei, vier Monate nach der Regenzeit, alles abgefressen und bildet eine grosse, rund ums Dorf herum abfallende Fläche, bedeckt mit Kot von Kühen, Eseln, Schafen, Ziegen, Hunden, Hühnern, die ja alle keinen Tee trinken.

Es folgen zum ausgetrockneten Bachbett hin die abgeernteten Äcker, die während der Regenzeit von mit niedrigen Dämmen leicht gestautem Wasser getränkt worden sind. Doch jetzt findet sich Wasser erst fünf Kilometer entfernt in vier Meter Tiefe. Es wird mit Eimern geschöpft, Vieh und Menschen von Hand zugeführt oder in Kanister gefüllt, um auf Eselsrücken ins Dorf zu gelangen. Dazwischen weidet das Vieh das dünne, trockene auf dem sandigen Boden liegende Gras ab. So gibt es immer nur Fleisch und Getreide zu essen. Kleine Gärten, von den Frauen angelegt und handweise bewässert, geben bloss eine Ahnung davon, was Salat, Gemüse und Früchte wären.

sahelgarten

Und das Wasser wird nicht mehr, immer tiefer muss gegraben werden. Entweder sind es grosse, ungesicherte Löcher, die eine erste saisonale Wasserschicht in ein paar Meter tief anzapfen oder einige dutzend Meter tiefe mit Aesten oder Zement armierte Brunnen. Auch die Bäume werden nicht mehr, viele wurden zu Brennholz. Die Menschen sind sich der Problematik bewusst und schätzen zumindest jeden der wenigen verbliebenen Bäume in der nächsten Umgebung, die alle eine Geschichte haben. Doch kochen müssen sie trotzdem, immerhin gibt es ein paar Gasflaschen im Dorf und verbrannt wird zuerst Buschwerk.

Das Wasser kommt mächtig, wenn es kommt und wirft noch als Regentropfen vom Wind getrieben ganze Häuser um. So leben die meisten Dorfbewohner neben den Fundamenten ihrer zerstörten Heime in Zelten. Um sie wieder aufzubauen, bräuchten sie dasselbe Element, das sie zerstört hat, viel Wasser für die Ziegelsteinproduktion. Das Zelt ist den Halbnomaden ganz recht. Ziemen aber würde sich für Mauren ein hässlicher Backsteinkubus. Für mein Auge die beste und schönste Lösung ist die gemütliche, afrikanische Rundhütte, die aber nur als Kompromiss und Notbehelf gebaut wird.

Es gibt keine Strasse, keinen Strom, keinen Motor, kein Schreibpapier, keinen Radio und keinen Fernsehempfang. Aber freundliche Menschen gibt es, die nach Sonnenuntergang im Dunkeln sitzen und lachen. Ausser Mond und Sternen bringt nur das kurze Aufleuchten von Taschenlampen etwas Licht. Deren Batterien bilden nach Gebrauch zwischen den Tierfladen den modernsten Abfall des Dorfes. Die grossen Kinder sammeln die runden Batterieabschlüsse, weil sie wie Münzen aussehen. Die kleinen Kinder aller Säugetiere schreien bei Sonnenuntergang gemeinsam; Menschenkinder, Kuhkinder, Ziegenkinder, Schafkinder, alle schreien eine Viertelstunde lang, dann ist es dunkel und ruhig.

Es gibt fast keine Bilder im Dorf. Bilder aus meiner Welt sind schwierig zu verstehen und werden nicht immer richtig herum gehalten. Doch es gibt nicht keine Bilder. Die Bilder dieser Welt erzählen sich mündlich in weichem Arabisch, einem schon afrikanischen Arabisch, einem freundlichen, friedfertigen, gutwilligen Arabisch, dem Hassania. Erzählbilder in Mauretanien erhalten einen Rahmen, das Protokoll. Die Begegnung zweier Mauretanier beginnt mit einem emotionslosen, monotonen und zuweilen mehr als eine Minute dauernden und ohne Augenkontakt gehaltenen Zustandsbericht über die familiären Verhältnisse. Erst nach diesem Protokoll schaut man sich in die Augen, erzählt alles nochmals frei, traurig oder fröhlich, berührt sich, debattiert, macht Witze, streitet nur kurz und sucht sofort die Versöhnung.

les Bleus

Gerne möchte ich Alkohol trinken und ausfällig sein, Schweinskoteletten verzehren und dumme Sprüche in meiner eigenen Sprache machen. Ich möchte nicht zusammen mit vielen andern Händen aus einem Topf essen, Couscous mit Händen kneten und in den Mund stopfen. Ich möchte meinen eigenen Teller, mein Besteck, mein Glas. Ich möchte nicht vernünftig leben wie mein maurisches Dorf und wie Mohamed es vorgetragen hat. Doch ich versuche ein Esel zu sein und gebe mich hin. Einen Esel sollte man den Europäern als Heilsbringer vorsetzen. Immerhin reiten Heilige ganz gern auf Eseln. Doch Esel sein, das wollte noch keiner.

Esel lieben Asphaltrassen. Weg aus dem Dorf, 100 weglose und wellblechige Kilometer südöstlich in der Provinzstadt Kaeidi am Senegalfluss, wo es heisser und grüner ist, da hat es eine Asphaltstrasse. Alle Tiere queren diese Strasse, manche verrotten daneben. Esel aber gehen ihr entlang. Esel laufen brav am Strassenrand, nicht auf dem Kiesstreifen, nein, immer auf dem Asphalt laufen sie rauf und runter, hintereinander, allein, in wunderbarem Gleichmut. Nie mehr will Ich Schlechtes hören über Esel.

Schlechtes gibt es überall. Ich kultiviere es zusammen mit allen weissen Schafen Schlag auf Schlag als exakt gedrehte Schraubenwindungen, aufgedampfte Mikroprozessoren oder einer alt gewordenen Feuilletonkultur. Hier wird dem weissen und schwarzen Schaf für den ankommenden Gast der Hals aufgeschlitzt, Richtung Mekka, mit einem Anruf der Vergebung, um es eine Stunde später zu servieren, danach gibt es drei Runden Tee anstatt Kräuterlikör. Schlechtes wird auch berichtet vom Rinderbaron, der seine über 200 Rinder nicht an ein selber gegrabenes Wasserloch führt, wie es sich gehört, der aber nicht hören will, aus der Reihe tanzt, eine Familie führt, die zu viel Milch trinkt, was eigensinnig werden lässt, oha! Dabei sind wir Schweizer hoch angesehen, denn das Rote Kreuz und dessen Derivat, der Rote Halbmond, das kennt man bestens. Schlechtes berichtet wird auch vom Wolf, der die Schafe reisst und sich nicht aufspüren lässt. Früher gab es auch Löwen und begegnete man einem, war es angebracht, zügig und stolz wie ein Löwe seinen Weg an dem andern vorbei zu gehen. Und wenn der andere einem folgte, galt es, weiterhin unbeeindruckt bis ins nächste Dorf zu marschieren, da erwartete den falschen Löwen Tee, vielleicht ein Schaf und entspanntes Liegen und plaudern.

Stühle und Tische gibt es nicht, auch nicht in der Stadt, Loungen scheint mir deshalb von hier zu kommen und moderne Gitarrenmusik übrigens auch.Verblüffendes lässt sich als Festmusik hören, eine Art melodischer Freejazz mit Tamtam, Gitarre und etwas Karaoke im maurischen Hochzeitszelt. Einige machen einen Mitschnitt auf altersschwachen Kassettenrecordern mit ebenso alten Bändern, die sie nach jedem Stück neu spannen und justieren. Die weiten tanzenden Kleider in der schwach beleuchteteten Nacht wirken wie Gespenster. Mein Auftritt macht mich weitherum berühmt in den Nachbardörfern, das ist schön.

Ganz Westafrika hat uns wohl mehr vermacht als uns bewusst ist und dies nicht nur freiwillig. Unfreiwillig war jedenfalls der Umweg des schwarzen Afrikas über den Atlantik, freiwillig jener der Herrschaft der weissen Mauren in Spanien. Hier im Festzelt schwarzer Mauren kommt es irgendwie zusammen.

Die Mauren und die Sklaverei. Das sagt man ihnen ja nach, sie hielten noch immer Sklaven, obwohl offiziell seit den Achtzigern verboten. Da liege ich bequem und gut versorgt unter freiem Himmel in einem Dorf von schwarzen Mauren, die vielleicht vor sehr langer Zeit selber Sklaven waren und vor langer Zeit die Seite wechseln konnten und Herren wurden. In der Stadt hält man sich Bedienstete. Karren ziehen und Dreckarbeit erledigen, das tun da nur Schwarze. Es sind oft Einwanderer aus Senegal und Mali und sicherlich auch ehemalige Sklaven oder deren Nachfahren, die noch nicht den Weg nach oben gefunden haben, nicht aus der Bedienstetenkaste wegkommen. Deren Herrschaften sind meistens weisse Mauren, die bewegen sich eine Spur zackiger und stolzer, sind etwas distanzierter und fahren die besseren Autos. Auf dem Land sind sie es, die überhaupt Autos besitzen, gute, geländegängige Autos, die man in meinem Dorf nie sieht. Doch ich hab es noch nicht durchschaut, die Schichtungen und Verwerfungen, sie sind komplexer als um sie nur mit Hautfarben und Automarken zu beschreiben.

Der Herr Professor, der die Maturaprüfungen in der Hauptstadt abnimmt, meinte zu meinem mauretanischem Freund Ibrahim, er solle mir alle Geheimnisse dieses wunderbaren Volkes zeigen. Das wird sicher noch dauern. Eines ist vielleicht, dass der Professor wie viele wichtige Leute der Technokratie im mauretanischen Staat nicht alteingesessenen Familien entstammt, denn diese wollten ihre Kinder lange Zeit nicht in eine moderne Schule schicken. Schule war was für Arme und Waisenkinder. Diese Kinder von Waisen und weniger angesehenen Familien sitzen nun in den Büros in Nouakchott, wie der Professor oder der Gouverneur von Nouakchott oder der Präfekt von Aleg, alles Herren aus armen maurischen Familien, doch in ihrer Jugend protegiert und gefördert von Ibrahims Vater, Patriarch eines Saheldorfes, der mit seiner herzensguten Frau ruhig und zufrieden im Zelt neben den Ruinen seines Hauses lebt.

Mein lieber Ibrahim, Prinz im Dorf, Grundstücksbesitzer in der Hauptstadt und in seinem Mauretanien überall von wohlwollenden Freunden und Verwandten umgeben, verträgt in der Schweiz Zeitungen, verdient kaum genügend Geld und kämpft mit den stumpfen Waffen des Halbanalphabeten gegen die sich schriftlich ausdrückende Schweizer Bürokratie, die in Mauretanien bei einem mündlichen Vorsprechen und unterstützt von einem kleinen Entgelt eigentlich viel effizienter funktioniert. "Kein Problem, ich kenne den Herrn, der..." so beschwichtigte er meine Bedenken zu diversen Ungereimtheiten in meinen Reisepapieren. Und tatsächlich, kein Problem.

Ich werde Ibrahim heim nach Mauretanien schicken, sobald und wann immer möglich. Und er will selber heim, ist voller Sehnsucht, will nicht immerzu der einzige Mauretanier in der Schweiz sein, einem kleinen, scheinbar unschuldigen Land zwischen den Kulturen, bewohnt von geschäftigen Viehzüchterseelen. Das erinnert ihn zwar an Mauretanien, deren drei Millionen Einwohner ebenso unschuldige, korrekte und ehrliche Viehhändler sind, zwischen schwarzem und weissem Afrika gelegen, aber mit doch bedeutend mehr Platz ausgestattet, nämlich einer Million Quadratkilometer Sand und Stein. Doch anstatt Wissen gibt es in Mauretanien nur Erz und Fisch zu exportieren, deren Einkünfte bis anhin relativ spurlos an an den Bewohnern vorbeigegangen sind.

In Europa und schliesslich der Schweiz traf Ibrahim auf eine ungläubige Gesellschaft, die ihn nicht einbinden konnte in ihre alkoholische, schweinisch bratwurstige Geselligkeit. Ibrahims manchmal naiver Idealismus lässt ihn gläubig ausharren an einem ihn vereinsamenden Ort, bis seine Tochter ihn irgendwann wird entbehren können. Er ist wahrlich treu und korrekt.

Der Herr Professor, der in einem von Ibrahims Häusern in Nouakchott zur Miete wohnt, lässt es gern zu einem Streitgespräch über die Vorteile von etwas mehr Laizismus kommen, wenn er den Iman trifft, der mit uns im Dorf den Schlafraum teilt und immer um fünf das Morgengebet verrichtet. Mauretanien ist ein streng islamischer Staat. Doch weder ist der Glaube und dessen Einfluss auf den Alltag den Leuten aufgepropft wie im Iran, noch von bizarrer äusserer Strenge wie in Saudiarabien. Der mauretanische Islam ist mild, versöhnlich, kommt von Herzen, ist noch unverdorben und von westlichen Einflüssen weitgehend frei geblieben. In diesem Land gibt es keinen Alkohol und keine Kreditkarten und es scheint kein Bedürfnis danach zu existieren. Bis jetzt. Denn nun schauen sie zumindest in den Städten Fernsehen und ganz Westafrika staut sich am Senegal und will via Mauretanien nach Europa. Auch die jungen mauretanischen Männer möchten dies, dahin fahren, wo man Säue isst und Alkohol trinkt. Das wird nicht einfach werden.

Die jungen Frauen dagegen bleiben lieber zu Haus, bereiten das Essen und den Tee zu. Sie tun es gern oder lassen sich Trübsal zumindest nicht anmerken. Doch die Zubereitung des Tees zeigt denn doch etwas auf über die Stimmung der damit betrauten Dame. Eventuelle Unlust zu Beginn, weicht garantiert einer durch das Ritual erzeugten Gelassenheit. Die Verheirateten sind offen und sogar fröhlich, die Unverheirateteten vorsichtig und verschämt. Die Frauen tragen weite, farbige Gewänder, die Männer den Boubou ein offenes weisses oder blaues Flattergewand, einem Poncho nicht unähnlich. Bei allem islamischen Patriarchismus, hadern tun die Frauen hier nicht so sehr mit ihrer Rolle als Hausherrinnen. Dass es allerdings in Nouakchott Frauen geben soll, die Auto fahren, ist wohl Ibrahims Zweckmeinung einem zwiespältigem Modernisierungswillen zu liebe.

Ausser den weissen und schwarzen Mauren wohnen in Mauretanien auch Minderheiten, die am Senegalfluss Ackerbau betreiben sowie eingewanderte Senegalesen und Malier. Und so lässt sich in der Hauptstadt ganz Afrika bestaunen. Die senegalesische Mama gibt dabei das schönste Bild ab. Stolz und wohlgenährt lässt sie sich von der farbig bemalten Pferdedroschke zum Markt fahren, ebenso stolz marschiert sie in ihrem kecken, fantastisch schönen Gewand zum Stand, das grosse, volle und schön verzierte Portemonnaie vor sich her tragend.

Der senegalesische Mann hat auch was zu bieten. Er fährt einen Mercedes 190 Diesel mit dem üblichen Loch im Kühler und fährt auf und ab über die sandigen, welligen von Unrat übersäten Strassen Nouakchotts, hält unvermittelt mitten in irgendeiner Art Verkehr an, legt den Leergang ein, öffnet die Fahrertür, steigt rasch und behände aus, geht nach vorn, öffnet im selben Rhythmus die Kühlerhaube, schraubt den Deckel des Kühlers ab, begibt sich zum Kofferraum, öffnet auch diesen, entnimmt daraus einen kleinen Kanister oder eine grosse Flasche Wasser, schliesst den Kofferraum, begibt sich wieder entschlossen nach vorne, füllt den Kühler auf, zieht am Gashebel, füllt weiter auf, verschliesst den Kühler, lässt die Motorhaube fallen, läuft nach hinten, öffnet den Kofferraum, wirft den Wasserbehälter hinein, schliesst den Kofferraum, läuft zur Wagenmitte, steigt bündig ein, zieht die Fahrertür zu, legt den Gang ein und fährt weiter. Diese Darbietung gibt es immerzu und in für uns Europäer nicht zu erreichender Eleganz zu bestaunen.

Mercedes

Vor einigen Jahren noch schlossen die Händler in Nouakchott ihre Läden über Nacht nicht ab. Heute tun sie es und Wächter gibt es auch vermehrt. Die Ränder von Nouakchott wachsen jeden Tag um ein paar hundert Backsteine weiter hinaus in die Wüste und ans Meer heran. Nouakchott ist mit einer Million Einwohnern die grösste Wüstenstadt Afrikas und das Scharnier zwischen weissem und schwarzem Arfrika. Nouakchott wurde vor 50 Jahren nach der Unabhängigkeit vom Fischerdorf zur Hauptstadt gemacht. Es gibt noch wenig städtische Identität. Man trifft sich hier, um Geschäfte oder etwas Politik zu machen und rasch ins Dorf zurückzukehren oder zumindest immerzu davon zu träumen und vernachlässigt dabei dieses immer noch als künstlich empfundene Gebilde, mit den von Abfall übersäten Staubstrassen voller Eselkarren und sich selbst regulierendem Verkehr aller Mercedes Diesel, die in Europa nicht mehr erwünscht sind und wohl 90 % der mauretanischen Fahrzeugflotte ausmachen. Das Ersatzteil ist das Kaufkriterium und sagt so viel aus über die Probleme ganz Afrikas. "Wir produzieren nichts.", sagt der Professor.

Auch in Europa fanden es die Bauern im 19. Jahrhundert nicht toll in Fabriken nach der Uhr zu arbeiten. Und die friedlichen, gemächlichen Menschen aus dem Dorf mit den schreienden Sonnenuntergangskindern, was sollten sie in einer Fabrik verloren haben, ich gönne es ihnen nicht, Proletarier zu werden. Sie leben im Paradies, das wir verloren haben und gelegentlich wieder suchen. Und doch steckt in jedem einzelnen Dorfbewohner die Neugier und der Drang nach Neuem. Und wenn sie das Neue nicht selber finden, wird es sie rasch und rascher heimsuchen.

Nouakchott füllt sich mit Neugierigen aller Art, vor allem mit einer Art afrikanischem Proletariat ohne Fabriken. Und solche wie der Professor bilden erst jetzt eine Art städtische Bourgeoisie, die die üblichen Stadtprobleme anzugehen gewillt ist, einfaches wie Müllentsorgung, schwieriges wie Einwanderung, Segregation, Kriminalität und zweifellos daraus resultierende politische und religiöse Spannungen. Deren Ursachen wird der eine oder andere sicher gern im alkoholisierten Westen orten und entsprechend von sich hören lassen müssen, wie es leider in Mauretanien in letzter Zeit schon geschehen ist.

Kleine Aufwallungen und Explosionen treiben uns alle an. Aggression. Ich spüre meine eigene, umgeben und umsorgt von scheinbar vollkommen gelassenen und friedlichen Menschen, spüre meinen Individualismus, der mir zu Hause erlaubt, grantig und misslaunig zu sein, der in Europa den Motor antreibt mit dem durch all die Kriege hindurch austarierten, demokratisierten Mass an Bosheit, das vorwärtsdrängt, erfindet, produziert, verkauft, dieses System, das uns manchmal so plagt und einige überrollt, wenn sie nicht stark oder gut aufgestellt sind, die Versicherung nicht zahlt, die Familie entfremdet. Was passiert, wenn sich diese Welten treffen? Wo steckt die Bosheit der Mauretanier?

jungerMann

Schlagen sie ihre Esel zu heftig, die wirklich sichtbaren Sklaven dieser Gesellschaft? Sind sie manchmal zu stolz auf ihre Herrschaft, ihren Glauben, ihre Kleidung, ihren Tee, ihre Geheimnisse? Oder färbt das fast ausschliessliche Fahren von Dieselfahrzeugen, die nur durch Druckaufbau zünden und nicht durch Funkenschlag, zu einem andern, dieseligen Verhältnis zur Kraftübertragung? Nigerianer zum Beispiel fahren ja vorwiegend Benziner und sind deutlich temperamentvoller. Wie werden wir Milch trinkende Schweizer uns entwickeln, wenn die günstigeren Dieselautos zunehmend beliebter werden? Das sind läppische Fragen um Esel und Ei, aber als Teegespräch ganz passabel.

Das Böse ist überall. Immerhin führte Mauretanien in den Siebzigern im Norden Krieg mit den Marokkanern und der Polisario um die Westsahara, deren Bewohner den Mauretaniern wohl näher sind als dem schliesslich siegreichen, übermächtigen Marokko. Ein Jahrzehnt später eskalierte im Süden der übliche Sahelstreit zwischen Nomaden, hier also den arabisch sprechenden Mauren und den Ackerbauern und Landarbeitern oder ehemaligen Sklaven. Mauretanien vertrieb echte und mauretanische Senegalesen nach Senegal, Senegal mauretanische Händler in die andere Richtung. Und die Art Weise der Nutzung des Wassers des Senegals wird auch künftig für Streit zwischen Grossgrundbesitzern, Kleinbauern, einzelnen Stämmen und dem Staat sorgen. Immerhin wird sich das in einem Staat abspielen, der es nach dem letzten freundlichen Putsch vor zwei Jahren geschafft hat, sich mustergültig demokratisch zu organisieren inklusive Amtszeitbeschränkung des Präsidenten.

Wir fahren mit 100 durch die Wüste, weg von Kaeidi am Senegalfluss und hin zur Hauptstadt Nouakchott, eine Strecke, auf der man den Uebergang vom Sahel in die Sahara beobachten kann. Die Haube ist mit einem Seil gesichert, die Windschutzscheibe von einem adrigen Risssystem durchzogen, anstatt Getriebeoel, macht Motorenoel das Schalten schwierig, die Tür lässt sich nur mit einem kräftigen Ellbogenkick öffnen, doch der Wagen ist frisch gewaschen. Auf dem Rücksitz sitzen drei Frauen, neben mir Ibrahim, und ich sage zu ihm, die Hände am Steuer dieses echt afrikanischen Autos, "kannst du mir bitte Wasser reichen?" Er öffnet die Plastikflasche, hergestellt mit Erdoel aus Saudiarabien oder gar aus Venezuela, von Chavez geliefert, einer der Politclowns, die Ibrahim so mag, und reicht sie mir. Ich trinke das aus der Tiefe der mauretanischen Wüste heraufgepumpte Mineralwasser aus, fast aus, ein Viertelschluck bleibt, und gebe die Flasche zurück. "Du hast nicht ausgetrunken," meint der Wüstensohn und gibt sie mir zurück. Ich bemühe mich um komplette Leerung, er nimmt die leere Flasche und wirft sie aus dem Fenster.

Senegalfluss

























Himmelsmusik
Eine Reise zu Herrn Lagrange

eine Kurzversion als PDF 


Im nördlichen Erdensommer 2008 wird Herschel bei 3 Grad Kelvin Aussentemperatur Lagrange umkreisen. Herschel ist ein Teleskop der ESA für den Infrarotbereich. Sein Namensgeber Wilhelm Herschel war im achtzehnten Jahrhundert der Entdecker des Uranus und der Infrarotstrahlung sowie ein unermüdlicher Teleskopenbauer.  Joseph-Louis Lagrange war im selben Jahrhundert Mathematiker und fand einen neuen Zugang zum Dreikörperproblem, die Lagrangepunkte.

 Lagrangepunkte

Die Beziehung von drei Körpern im Raum lässt sich nicht abschliessend berechnen ausser für zwei Spezialfälle; erstens, wenn alle drei gleich schwer sind und zweitens, wenn einer der drei praktisch keine Masse aufweist, idealerweise also nur ein Punkt ist. Solche Lagrangepunkte gibt es immer fünf in der Beziehung von zwei Körpern wie zum Beispiel Erde-Sonne oder Erde-Mond. In den fünf Lagrangepunkten heben sich Fliehkraft und Anziehungskraft von zwei verschieden schweren Himmelskörpern auf. Es sind Parkplätze im Sonnensystem. Und diese Parkplätze werden benutzt. Bei den stabilen Lagrangepunkten 4 und 5 auf der Umlaufbahn des jeweils kleineren Körpers finden sich vor allem bei den grossen Planeten Staub und Steine. Es sind Langzeitparkplätze.
Lagrange 1-3 liegen dagegen auf den Achsen zweier Körper wie Sonne-Erde und sind instabil, das heisst, auch bei exakter Parkierung auf dem Punkt würden kleinste Veränderungen zum Abdriften führen, und solche Veränderungen gibt es immer in der Gestirnswelt. Es mischen sich Monde und  Planeten ein, in unserem Sonnensystem  insbesondere der Jupiter. Eine Abweichung führt unweigerlich und exponentiell zu  Parkplatzverlust, was bewirkt, dass das Fahrzeug eine eigene Umlaufbahn um die Sonne nimmt und eine unterschiedliche Geschwindigkeit in Bezug zur Erde erhält.

Bei Lagrange 1 zwischen Sonne und Erde, etwa 1.5  Millionen Kilometer von uns entfernt, sind schon einige Plätze besetzt, vor allem von Sonnenbeobachtern wie  SOHO. Lagrange 3, versteckt hinter der Sonne, wäre in der Hoffnung von Ufologen ein diskreter Parkplatz für Untertassen. Herschel aber wird als zweite Sonde überhaupt den instabilen, ebenfalls 1.5 Millionen Kilometer entfernten, aber von der Sonne abgewandten  Lagrangepunkt 2 ansteuern und diesen in einem sogenannten Lissajou-Orbit mit einer doch beachtlichen Maximaldistanz von bis zu 800`000 Kilometern umlaufen und dabei aber, da dieser Ausschlag nicht zur Erde hin geschieht, zwischen 1,2 – 1,8 Millionen Kilometern von der Erde entfernt bleiben. Fürs Parkieren muss Herschel  von Zeit zu Zeit mit etwas Steuerenergie bezahlen, ohne den Parkwächter Lagrange je zu treffen.

Die vielen Lagrangepunkte des Sonnensystems werden in Zukunft für die Raumfahrt an Bedeutung zunehmen und Ruhe-, Umschlag- sowie Bauplätze werden. Sie sind auch Angelpunkte für neuartige Reisewege von Sonden und zukünftigen Raumschiffen, die mit ihrer Hilfe fast ohne Energie durchs Sonnensystem reisen können. Eine erste Sonde, der Sonnenwindfänger Genesis, hat sich das schon zu Nutze gemacht.

Herschel ist der letzte Stein im „four Cornerstones“-Programm der ESA. Es ist ein komplexes, teures, personalintensives und organisatorisch sehr anspruchsvolles Projekt, das aber dementsprechend viel an neuen Erkenntnissen bringen wird. Herschel schaut als dannzumal grösstes extraterrestrisches Teleskop mit einem Spiegel aus Siliziumkarbid von 3.5 Metern Durchmesser tiefer ins All als seine Vorgänger. Hubbles Spiegel misst 2.5 Metern im Durchmesser. Das  James Webb Teleskop, das die NASA 2013 bei Lagrange 2 parkieren will, wird sogar einen 6,5 Meter grossen Spiegel haben, aber nicht dasselbe interessante Spektrum wie Herschel beobachten können. Denn Herschel bietet nicht nur einen quantitativen Sprung, sondern wird etwas betrachten, das auf der Erde nicht zu sehen ist: Das Infrarotspektrum zwischen 60 und 670mm von kalten Objekten wie Molekülwolken und Staub, der Kinderstube von Sonnensystemen. Speziell und erstmalig erfasst Herschel dabei den Submillimeterbereich zu den Radiowellen hin.

Infrarotstrahlung von kalten Objekten geht in der Wärme unserer Atmosphäre  verloren. Auch Vorgänger von Herschel wurden in ihrer Beobachtung von sehr kalten Objekten nur schon durch die nahe, Wärme abstrahlende Erde und natürlich die aufheizende Sonneneinstrahlung in ihren Beobachtungen behindert. Herschel wird darum bei Lagrange 2 parkiert, um weit genug weg von der Erde zu sein, aber doch günstig gelegen, um eine regelmässige Kommunikation zu ermöglichen. Herschel erhält einen Schild, der vor dem Aufheizen durch die Sonneneinstrahlung schützen soll sowie eine Heliumkühlung für die inneren Apparaturen und führt zu diesem Zweck zweitausend Liter flüssiges Helium mit, das fortlaufend verdampfen wird. All dies ist notwendig, obwohl Herschel sich an einem Ort mit extrem tiefer Temperatur befindet. Die Objekte, die zu beobachten sind, sind einfach zu kalt. Deren Wärme analysierbar zu empfangen ist nichts für südliche Temperamente. So muss auch Herschel selber mit möglichst wenig Wärmeproduktion arbeiten, wenn es sich mit Gyrosokopen selbst ausrichtet oder das vom grossen  Spiegel empfangene Licht auf die verschiedenen kleineren Spiegel lenkt, die wiederum die erhaltene Information an verschiedenste Messapparaturen weiter lenken und gern Wärme produzieren, wenn Strom durch ihre Schaltkreise fliesst. Herschel aber wird mit einer inneren Betriebstemperatur von etwa zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt kälter sein als seine Umgebung und beste Voraussetzungen mitbringen, um nachzuschauen, wie sich aus kaltem Staub Sterne und Planeten bilden.

Herschel führt drei Verarbeitungsmodule mit sich und wird drei Jahre lang verschiedensten Instituten auf der Welt zur Verfügung stehen, solange sollte das mitgeführte Helium als Kühlmittel reichen. Forscher können ihre Beobachtungswünsche mit Hilfe  spezieller Software formulieren und Herschel damit für sich arbeiten lassen. Die zwei Module PACS und SPIRE arbeiten mit Bildverfahren. Das dritte aber verarbeitet das vom  grossen Hauptspiegel  erhaltene Licht  ähnlich wie ein Radioempfänger mit einem sogenannten „Heterodyne Instrument for the Far Infrared“, kurz HIFI, was zufällig aber durchaus sinnig an Hifi erinnert, denn das HIFI arbeitet nicht nur ähnlich wie ein Radio, es verarbeitet auch Wellen aus dem noch nie beobachteten Submillimeterbereich nahe den Radiowellen.  Insbesondere lässt sich damit erstmals Wasser beobachten, dessen Abstrahlung in genau diesem Bereich am stärksten ist.

Wasser ist nicht nur auf der Erde wichtig, es ist eines der häufigsten, aber auch verstecktesten Stoffe im All. Dessen Beobachtung in Molekülwolken und entstehenden Sonnensystemen mit Temperaturen zwischen 10 und 50 Grad Kelvin verspricht tiefe Einsichten in die Entstehung von Sternen und Planeten, vor allem in der  Phase der Akkretion, der Verdichtung und Scheibenbildung von Molekülwolken. Das Wasser verdampft erst im Innern und wird dann vom sich bildenden Protostern wieder nach aussen geblasen, wo es ja auch in unserem Planetensystem hauptsächlich und tiefgefroren zu finden ist. Das Erdenwasser dagegen hat seinen Ursprung anderweitig und ist ein Spezialfall. Wieweit das Erdenwasser von aussen her durch Kometen und Asteroiden herangetragen wurde oder zum Teil doch noch aus der Akkretionsphase stammt, ist unklar. Wasser erlebt jedenfalls ziemlich viel bei der Sternenbildung und ist ein hervorragender Informant.

Dieser Informant wird Professor Arnold Benz von der ETH Zürich und seinem Team für Jahre Arbeit bescheren. Das Institut für Astronomie leistet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Nutzung des HIFI. Die zukünftig von Herschel erhaltenen Daten sind nicht nur mengenmässig zu verarbeiten, sondern in einem permanenten Lernprozess immer wieder aufs Neue auszulegen. Es gibt viel zu forschen und auch genügend Studenten und Doktoranden, die sich interessieren. Die Astronomen leiden nicht wie andere Natur- und Ingenieurwissenschaften unter Nachwuchsmangel. Professor Benz aber kann nicht allen eine Stelle anbieten, vor allem auch nicht genügend solche, um auf Dauer davon leben zu können.

Schaut man bei einem Besuch im Astronomischen Institut aus dem Fenster mit Sicht über die Stadt, wird in unterschiedlicher Form rasch klar, was die Wasserbeobachtung auf der Erde behindert, Hochnebel versperrt die Sicht auf den Uetliberg, ein andermal werden es Cumuli sein oder mindestens ein paar Kondensstreifen. Unsere wässrige Atmosphäre stört noch in 100 Kilometern Höhe eine Wasserbeobachtung im All. Auch die in höchster und reinster Luft gelegenen Observatorien sind da wenig hilfreich, geschweige denn der Umstand, dass es auch auf einem Andengipfel für solche Beobachtungen im Infrarotbereich viel zu warm ist.

Die ETH Astronomen werden dank ihrer Mitarbeit als Wasserforscher einen Gratiszugang zu Herschel haben. Ein Drittel der Beobachtungszeit ist für die an der Entwicklung beteiligten Institute reserviert. Der Schweizer Beitrag des Instituts für Astronomie und des Instituts für Feldtheorie und Höchstfrequenztechnik der ETH umfasst ausser Forschung auch Entwicklung und Bau elektronischer und optischer Bauteile sowie diverse Aufträge an private Firmen.

Solche Aufträge aus der Forschung an die Industrie werden von PRODEX unterstützt und finanziert, einer von der Schweiz initiierten Organisation innerhalb der ESA, der vor allem Länder ohne eigenem Raumfahrtprogramm angehören, die mit dem PRODEX Programm ihre nationalen industriellen Ressourcen besser vernetzen und ausschöpfen können. Das Chassis des Heterodynegeräts zum Beispiel, etwa so gross wie ein Motorblock, wurde bei der Ruagtocher HTS in Wallisellen aus einem Stück gefräst und ist lediglich 200 Gramm schwer. Die Firma Baumer Electric fertigte zusammen mit der Contraves die von der ETH entwickelten elektronischen Verstärker. Alles in Herschels Mission erlaubt nur Präzisionsarbeit und erfordert bei den Materialien, dass man auch den Verzug mit einberechnet, den der frostige Arbeitsort mit sich bringt. So wird das Chassis des HIFI um etwa einen Millimeter schrumpfen.
 


Herschel wird nicht alleine zu Lagrange reisen. In derselben Ariane Rakete wird auch das ESA Teleskop Planck platziert. Planck beobachtet die Hintergrundstrahlung, das Überbleibsel des Urknalls, und wird zusammen mit Herschel bei Lagrange 2 in einer etwas engeren Umlaufbahn parkiert werden. Herschel und Planck sind das bisher grösste ESA Projekt mit Kosten von inzwischen über 2 Milliarden Franken und einer Verzögerung um ein Jahr, bedingt auch durch die komplizierte dezentrale Struktur der ESA und der Überforderung einzelner Teilnehmer. Doch der Schweizer Beitrag steht, und Professor Benz freut sich schon auf die Einladung zum Start der Ariane 5 in Französisch-Guyana.

Planck und Herschel beschäftigen sich mit dem Aufzeichnen und  Verarbeiten von Wellen, vom Geplätscher bis zu starker Brandung: Himmelsmusik. Und Musik begleitete auch ihre Namensgeber, sowohl Herschel wie Planck waren leidenschaftliche und hervorragende Musiker. Wir werden noch allerhand von ihnen zu hören bekommen.

 

                     
!-- 4stats Tracker Code // begin -->