Don
Quichotte aus Kaedi
Eine
erste Reise nach Mauretanien, 2006
als PDF
(mit
weniger Fotos)
10000
Meter über Kastilien kommen mir die Tränen.
Hinter den geschlossenen und feuchten Augendeckeln sehe ich
ich die beiden Herren im betagten MAN Lastwagen, Jahrgang 85, durch das
aufgrünende Spanien fahren. Mein Freund Ibrahim, Mauretanier,
schwarz und schlank, sitzt neben dem Chauffeur Staic, Serbe, weiss,
gedrungen und fett. Ich fahre hinterher im 4x4 Mitsubishi, Jahrgang 87,
immer mit Blick auf die Laderampe und die alte, angerissene Plane, die
im Fahrtwind am blauen Himmel flattert. Es ist die Art Tränen,
die nicht so einfach zu erklären, sondern vielleicht nur zu
erleben sind, die durchs Leben kullern, hier oben
über Kastilien auf dem Rückflug von einem kleinen
Abenteuer, das mich vom eisig kalten Zürich in das staubig
heisse Nouackott geführt hat.
Ibrahim
hat vor Monaten schon von "Steiss", wie er Staic in seinem
eigenen Deutsch nennt, den alten MAN Lastwagen für etwa 2000
Franken gekauft, Zweiachser mit Plane und Hebebühne. Und seit
Monaten schon führt mich Ibrahim auf die
Occasionsverkaufsplätze der Zürcher Agglomeration, wo
meist arabisch sprechende Händler in alten Wohnwagen sitzen,
mit Ibrahim über Preise diskutieren und ihm gute und schlechte
Ratschläge geben für seine Reise heim nach Kaedi am
Senegalfluss, südlichste Provinz von Mauretanien.
Da
sitzen sie zum Beispiel eng aufeinander im Wohnwagen in Schlieren,
einem Vorort, der bekannt ist für seine Plantagen voller
Gebrauchtwagen. Der Händler und seine Freunde rauchen
Wasserpfeife und schauen im TV arabische Schnulzen. Und bald wird auch
Ibrahim in seinem Wohnwagen sitzen, sass auch schon da, muss nun aber
weg auf die grosse Reise. Ibrahim wird in Schwerzenbach sitzen, dem
hässlichsten Vorort meiner ansonsten so hübschen
Heimatstadt. In Schwerzenbach hat er Steiss kennen gelernt, der in
seiner kleinen Autowerkstatt noch ein Zubrot verdient nach seinem
Feierabend als Baggerführer. Auf dem Verkaufsplatz neben der
Werkstatt, wo vor allem Serben und Kosovaren friedlich nebeneinander
ihre Autos für den Export nach Exjugoslawien zusammenstellen
und zurechtmachen, da also hat nun auch Ibrahim einen Abschnitt zum An-
und Verkauf gemietet.
Steiss
erscheint zweimal frühmorgens vergeblich, um die grosse
Reise anzugehen. Desorganistaion, fehlende und defekte Teile,
irreführende, afrikanische Vorstellungen von
bürokratischen Abkürzungen... eine endlose Kette von
sich selbst nährenden Problemen, aber Steiss kommt auch am
dritten Morgen, misslaunig und misstrauisch zwar, aber er kommt, obwohl
sogar sein Sohn ihm davon abgeraten hat mit dem Afrikaner zu fahren und
sein Herzproblem noch zu verschlimmern. Und Ibrahim hatte recht, wenn
er schon seit Wochen von Steiss schwärmt; der Mann
hält sein Wort, auch wenn es ihn bis anhin nur Aerger und Zeit
gekostet hat. „Ibrahim ist ein
Pechvogel“, sagt meine Frau, sagen alle in unserer
gemeinsamen Nachbarschaft, aber ich gehe mit ihm nach Hause, sein
wirkliches Zuhause, wo die Eltern im Zelt wohnen, sehnsüchtig
auf ihren verlorenen Sohn warten und Ibrahim hoffentlich wieder mal
richtig grosse Portionen Glück findet. Steiss muss das ganz
ähnlich sehen.
Steiss
fährt Ibrahim den Lastwagen fast gratis nach
Südspanien. Im Lastwagen drin ein Mitsubishi Pajero 4x4,
Jahrgang 90, darum herum auf der Ladefläche unzählige
alte Computer, Bildschirme, Kopierapparate, Fernseher, Pneus,
Büromöbel und als Krönung eine Klimaanlage,
die unbedingte Voraussetzung ist für den Betrieb von Ibrahims
Kopier- und Computerstube im heissen Nouakchott, der Hauptstadt
Mauretaniens. Und dieses Lokal hat er auch schon etwas
aufgefüllt mit Elektronikware, die er in alten Lieferwagen
verstaut und verschifft hat. Nun also geht es damit erstmals
über Land. Und niemand von uns dreien hat diesen Weg je
gemacht. Ibrahim ist gerüchtehalber informiert, ich etwas
googelisiert und Steiss kennt auch nur den Weg nach Serbien.
Es
ist Ibrahims grosser Traum als Händler zu reussieren und so
eine Brücke ein seine alte Heimat zu bauen. Aber Ibrahims
Startkapital ist mager. Welch schöne grosse Geschäfte
könnte er doch machen mit etwas mehr Finanzkraft. Doch mit dem
wenigen Geld, das er zur Verfügung hat, eigentlich gar nicht
hat, kann er sich immer nur die billige Lösung leisten, deren
Folgekosten ganz gern noch das allerletzte Goldkorn aus Ibrahims
Portemonnaie saugen. Und sauber ist er "mon cher ami", und auch immer
gut angezogen, immer freundlich, immer guter Laune. Fast immer, denn
unweigerlich wird er manchmal mit bürokratischen und
überhaupt Ansprüchen konfrontiert, die er entweder
verdrängt hat oder schlicht nicht kennt. Und so gerät
er, der wirklich wunderbar pointierte und spannende Analysen
über die grosse und die kleine Welt machen kann öfter
mal in Situationen, in denen sein eigener Idealismus, seine scheinbar
so gut durchdachten Argumente zusammen mit einer Prise Sturheit auf
schroffes Unverständnis der Aussenwelt stösst.
Deshalb will er mir manchmal erscheinen wie Don Quichotte. Aber Don
Quichotte ist in uns allen, und Ibrahim lernt und macht weiter, er gibt
nie auf und hält an seinen Plänen fest. Und wenn es
ganz schlimm kommt, findet er immer noch Trost bei Allah.
Steiss
fährt mit Ibrahim im Lastwagen ohne funktionierende
Scheibenwischer durchs stark verregnete Frankreich, ich mit dem zweiten
Pajero, Jahrgang 87, hinterher, das Steuer knirschend, die Bremsen
schon schwach, das Getriebe mit Klopftönen, noch immer
beschriftet als Fahrzeug einer Sprengfirma.
Steiss
schläft nachts halb ausgestreckt in der Kabine, legt
seinen Bauch um den Schalthebel und lehnt den Kopf mit Schnauz an
Ibrahim an, der die Nacht sitzend durchdöst. Steiss
fährt zielsicher durch das von ihm noch nie befahrene Spanien
und macht nur einmal einen Fehler. Als Ibrahim ihn darauf anspricht,
sagt der Serbe in perfektem Schwyzerdütsch „heb
d`Schnörre“. Ibrahim wird Steiss dafür noch
lange lieben, denn allzu viel reden sie nicht miteinander. Steiss sagt,
Ibrahim ist kompliziert und schlecht organisert, aber ich helfe ihm, er
soll dieses Geschäft machen." Ibrahim empfahl mir, als ich
ihn frage, was ich den auf die Reise durch die Wüste mitnehmen
soll, ein schönes Jackett für den Besuch beim
Sekretär für auswärtige Angelegenheiten in
Nouakchott. Ich nehme ein Jackett mit, aber auch ein Seil und
Kabelbinder und ein paar andere praktische Dinge, die Steiss gefallen.
Ibrahim
lebt immer weit weg. Ibrahim ist in seinem Leben weit weg
irgendwie schon daheim. Dieses Daheim ist wie die Spitze eines
Windmühlenblattes, wo man sich besonders gut festhalten muss.
Doch immerhin geht nicht immer ein Wind. Vielleicht bin ich
zumindest ein Teil dieses Flügels. Die Nabe aber, die heisst
Kaedi, dahin kann er alle paar Jahre hinreisen. Und Ibrahim hat die
Windmühle auch in sich. Sein ansonsten so klarer Verstand hat
hin und wieder diese perpetualen Tendenzen. Teilweiser Analphabetismus
mag der Auslöser oder das mangelhafte Getriebe sein, die
Ibrahims Mühle in unserer Schriftwelt manchmal zum
überschnellen Rotieren bringt, so dass es die Formulare und
Dokumente zerfetzt und verweht, auch wenn er sich mit noch so gutem
Vorsatz in den Kampf wirft. Und schliesslich ist da die Nabe, die alle
Kräfte bündelt, das patriarchale, gütige und
milde Kaedi, die Eltern, die im Dorf warten auf Ibrahim, den verlorenen
Sohn und seinen weissen Freund.
Steiss
kommt immer wieder in seinem Kaedi an, Steiss hat nicht 8000
sondern nur 800 Kilometer dahin zurückzulegen, in Serbien auf
dem Land. Steiss fährt mit dem Lastwagen dahin. Steiss tut,
was Ibrahim sich erträumt. Steiss hat seine Welten fast
beisammen und erzählt Ibrahim von serbischen
Wünschelrutengängern, die Wasseradern ausfindig
machen und exakt sagen, wo genau gegraben werden muss. Wäre
das nicht ein sinnvoller Export? Serbische
Wünschelrutengänger im trockenen Kaedi? Solche Dinge
reden sie miteinander in der Tapasbar, 100 Kilometer vor Algeciras, dem
Fährhafen in Südspanien, wo wir nach Tanger
übersetzen wollen. Und beide haben keine Ahnung, was denn das
soll, diese Kleinportionen. Steiss setzt sich an den Tisch und
lässt mich für ihn Patatas fritas bestellen. Ibrahim
dagegen verzweifelt, kaum in Spanien, das Meer ahnend, sucht er immer
nach Fisch mit Reis, nicht Paella, einfach Fisch mit Reis. Aber Tapas,
was soll das? Schweinefleisch? Niemand versteht jemanden, Spanier reden
sowieso nur Spanisch und noch sind wir nicht in Algeciras, wo Ibrahim
sich problemlos mit Arabisch durchschlagen wird. Und Steiss
erzählt von seinem Bruder, mit dem er fast alles teilt, die
Autos, die Identitätskarte und praktischerweise die
Fahrtenschreiberkarten. Und auch Ibrahim hat einen Bruder, weit weg,
mit dem er fast alles teilen möchte, der uns erwartet, der uns
auch helfen kann beim Verkaufen, hoffentlich. Und Brüder hat
er wahrlich nötig, ohne Lesen und Schreiben kann es
für Ibrahim nicht genug davon geben auf dieser Welt.
Ja
dies Mauretanien und der Bruder. Ich kenne beide schon detailliert
aus den Erzählungen Ibrahims, in denen er über die
Jahre hinweg alle Facetten in wechselnden Farben dargestellt hat. Hat
er dies Land zu Beginn noch etwas glorifiziert, ist er mit der Zeit
zunehmend kritischer geworden, schweizerischer auch. Armut und Dreck,
das enorme Wohlstandsgefälle, was würde ich davon
halten, wenn ich mal auf Besuch käme? Trotz aller
aufkeimenden Zweifel, Mauretanien dieses etwas abgeschottete
Wüstenland mit Meeranschluss ist für Ibrahim, und
nicht nur für ihn, ein reiches Land, Fische, Erz und bald
Erdoel. Und an diesem Reichtum möchte er mitknabbern, sieht
dies Land bald prosperieren, die Nachfrage nach all den
schönen Konsumgütern, die hier in Europa als
Occasionen günstig zu erstehen sind, sprunghaft
ansteigen.
Im
sonnigen Süden Spaniens gefällt es auch Steiss und
in Algeciras angekommen, nach zwei Nächten mit
dem Bauch um den Schalthebel, überlegt er sich
ernsthaft, die Reise mit uns fortzusetzen. Doch Steiss hat nicht die
rechten Papiere. Still und dankbar trägt ihm Ibrahim die
Reisetasche zum Bahnhof. Später wird Steiss mit seinen
Wurstfingern SMS schreiben und nach unserm Befinden fragen. Ibrahim und
ich werden am Strand von Tanger spazieren und Steiss vermissen. Am
Strand von Tanger gibt es keine dunklen, schlanken Mauretanier und zu
dieser Jahreszeit auch keine mittelgrossen Mitteleuropäer und
wohl überhaupt nie kleine dicke Serben.
Und
wir haben in Tanger ausgiebig Zeit zum Spazieren, denn der
marokkanische Zoll will ein Depot für die Durchfahrt, das
Ibrahim nie und nimmer zahlen kann. Kostete das Durchfahrdepot
für die EU gerade mal 500 Franken für etwas, dass
sich da halt auch nicht mehr verkaufen lässt, wollen die
Marrokaner gerne 30000, wohlwissend, dass in ihrem Land der Wert schon
beträchtlich gestiegen ist und gegen Süden hin weiter
ansteigen wird. Und was den von mir gefahrenen Mitsubishi Pajero
betrifft, wird ab Tanger jeder Zöllner und jeder Polizist
davon ausgehen, dass ich, der Weisse, es bin, der den Pajero verkaufen
will und Ibrahim nur mein arabisch sprechender Strohmann ist. Doch
Ibrahim trägt das Risiko, Ibrahim bezahlt. Ibrahim ist der
Ritter. Steiss und ich sind nur die Knappen.
Vielleicht
hätte ich Ibrahim eindringlicher warnen sollen,
solche Probleme mit dem Zoll schwanten mir. Doch anderseits, in Marokko
spricht man arabisch wie im Wohnwagen in Schlieren. Das ist eine
Sprache, die einem nachbabylonischen Europäer als
Schlüssel für alle möglichen
Probleme erscheinen mag und mir in meinem Unverständnis auch
viel Verantwortung abnimmt und mich so zum Knappen macht, zusammen mit
Steiss, zwei zuweilen widerspenstigen Knappen, die kein Wort verstehen
von der Sprache dieser grossen arabischen Gemeinschaft, die sich im
spanischen Algeciras ankündigt und sich mit Salam Aleikum
begrüsst, uns Europäer freundlich einschliesst und
umgarnt, aber doch ängstigt, wenn wir wieder zu Hause die
Nachrichten schauen. Und die Depotfrage wird in einer Weise diskutiert,
als ob da schon etwas zu machen wäre. Doch Geld liebt man auf
der ganzen Welt, auch in Marokko. Und der Stärkere nimmt es
sich heraus, seine Hand darauf zulegen.
Es
folgt nach der Ankunft in Tanger ein tagelanges Procedere, um den
Lastwagen erst einzuführen und gleich wieder
auszuführen. Der erste Transiteur, der uns vom
Parkwächter empfohlen wird, lehnt den Fall sogleich ab. Ein
Transiteur ist in Tanger einer, der für den Transporteur alle
Autoritäten abklappert und deren Unterschriften einsammelt und
halt je nach dem mehr oder weniger schnell reussiert. Und dieses
Jenachdem ist uns Amateurtransporteuren die grosse Unbekannte, in die
man allerlei schlimme Geschichten über den marokkanischen Zoll
hineinprojezieren kann. Und auch der nette marokkanische Chauffeur, den
wir von Spanien her kennen, führt uns in der Stadt herum und
sucht ganz unentgeltlich mit uns einen Helfer, doch keiner sieht eine
Möglichkeit, den Lastwagen günstig durch Marokko zu
bringen. So kann man sich wunderbare Wahnwelten basteln, in denen schon
die Aasgeier des Transportgewerbes auf ihr nächstes Opfer
warten, einen der illiquiden, gestrandeten Laster im Hafen von Tanger.
Ist der Handel schon gemacht und der zukünftige Besitzer schon
vom Oberzolldirektor bestimmt? Wartet man nur freundlich, bis wir
abgezogen sind und zieht man meinem Ritter in der Zwischenzeit noch ein
paar Euros aus dem Waffenrock?
Da
wird uns von als Ganoven verkleideten Neppen, Mohamed Abdulatif
zugeführt. Warum nicht? Hier ist Tanger und viele verdienen
sich ein Bakschish mit Klein- bis Nullinformation. Abdulatif selber ist
wahrlich kein Ganove und auch nicht verkleidet. Abdulatif ist eine
interessante, charmante und auch körperlich imposante Person.
Doch er wird den Fall nicht lösen, wird keinen Erfolg haben im
Sammeln der Unterschriften bei all den Zolldirektoren, wird am Schluss
nur Zittern vor Angst, wenn man ihm mit der Polizei droht. Denn
Abdulatif hat sicherlich ganz intensive Erfahrungen mit der
marokkanischen Polizei gemacht. Abdulatif spricht wohl die Wahrheit,
wenn er derart profund referiert über die Schattenseiten des
marokkanischen Königreichs und als Referenz sein Wissen
über Europa ausbreitet, welches durchaus beeindruckend ist und
Abdulatif als gebildeten und weit gereisten Mann ausweist. Was aber
treibt einen solchen Herrn in den Hafen?
Abdulatif
stellt sich später als ehemaliger höherer
Staatsangestellten vor, der im spanischen Fernsehen vor Jahren
vielleicht die Wahrheit, aber halt doch das Falsche gesagt hat. Das
lässt uns zweifeln, ob denn ein gefallener und vielleicht gar
gequälter Staatsdiener als Bittsteller beim Zoll noch taugen
kann.
Aber
er beleuchtet in seinen Referaten nur, was wir im Hafen in
profaner Form beobachten, Schwärme von zehnjährigen
Buben, die sich durch die Gitterstäbe der
Hafenumzäunung drängen, um sich in einem offenen
Lastwagen zu verstecken oder direkt als Passagiere auf die
Fähren zu schmuggeln. Wie können das die Eltern
zulassen oder gar fördern? Und vielleicht ist Abdulatif selbst
ein Förderer, ein Menschenschmuggler und auch deshalb an
unserem Fall interessiert? Oder dann diese gewisse Vorsicht und
Schweigsamkeit der Marokkaner, was politische Themen betrifft. Angst
oder vielleicht auch bloss eine maghrebinische Melancholie, die in den
Adern der Menschen hier fliesst? Und wenn der junge König, der
von jeder zweiten Strassenkreuzung von riesigen Plakaten herab noch
melancholischer ins Nichts schaut als seine Untertanen, wenn er also
tatsächlich einen etwas angenehmeren und
aufklärerischen Kurs als sein Vater fährt, dessen
Knebel scheint durchaus noch immer zu wirken.
Abdulatif
weiss genau, welche Position Marokko in der Rangliste des BIP
einnimmt, 112, und wo der König mit seinem Vermögen
steht, 4, was nicht ganz offiziell ist, aber denkbar. Er weiss auch als
Einziger weit und breit, dass und wann eine Fähre von Cadiz
nach Mauretanien fährt, dienstags sicher. Und Abdulatif gibt
genaue Auskunft, was denn ein marokkanischer Arbeiter, 100, ein
Chauffeur im Inland, 300, und einer in Spanien, 600, an Euro verdient.
Sich selbst betrügt er mit 1200. Auch ihm will ich durchaus
etwas Augenwasser zugestehen.
Und
Abdulatif, dieser so weltlich gewandte Abdulatif, auch der spricht
über Religion, spricht über einen Islam des Herzens.
Und wie auch immer es um sein eigenes Herz steht, der Islam ist eine
ausserordentlich herzliche Religon, faszinierend totalitär und
die Menschen straff durchs Leben führend. Als katholischer
Atheist war ich durchaus froh, dass auch Ibrahim gern
über seine Religion spricht, sich dazu bekennt und
tatsächlich nie Alkohol trinkt. Er hat es nicht einfach auf
seinen Windmühlenrädern und es ist wahrlich nicht
gut, sich besoffen durch ein karges Leben zu drehen. Aber ich werde auf
dieser Reise etwas Sehnsucht entwickeln nach Rotwein und
Schweinefleisch, nach Menschen, die grob und hässlich wie ich
selber sind und nicht die Sanftmut und Zärtlichkeit von
muslimischen Männern praktizieren, deren Handschlag weich und
drucklos ist, von den Frauen ganz zu schweigen, deren unreine
Hände ein Mann ja sowieso nicht schütteln oder halten
oder sonstwie traktieren darf. So, aber sicher nicht nur deshalb,
entsteht vielleicht ein Vakuum der starken Hand, die das
übriggebliebene Elend verwaltet und leider noch ein bisschen
mehr und immer mehr, bis der Teufel sich doch noch richtig
gebiert als Diktator oder Terrorist.
Der
Hafen von Tanger ist uns tagelang Heimat. Ibrahim ist
misstrauisch und will nicht im Hotel, sondern im Lastwagen schlafen.
Ich mache es mir zwischen den noch leeren Oelkanistern im Heck des
Mitsubishi bequem, auf dem Parkplatz der Hafenmoschee, nur durch blaue
Gitterstäbe voller Schlupflöcher von Ibrahim
getrennt. Die Parkwächter sind unsere Freunde, die frittierten
Fische mit Reis in den Hafenkaschemmen unsere Nahrung, bis auch zu
Ibrahims Überdruss. Und Tanger offenbart sich als Stadt von
Städten. Kommt man mit dem Schiff an, täuschen einem
die grünen Hügel zur Seite eine Kleinstadt mit etwas
modernem Anbau vor. Doch Tanger ist beinahe eine Millionenstadt. Jeden
Tag zeigt sie uns ein neues Gesicht. Und Abdulatif, der so tief
Gefallene, zeichnet mit grossem Schwung die grossartigen Projekte auf
die Serviette, die Tanger noch grösser und grossartiger und
noch wichtiger machen werden, Strassen, Bahnen, Häfen,
wunderbare Dinge, an denen er als Gebrochener nicht mehr in im
adäquater Weise mitwirken kann.
Eines
Abends im Hotel warte ich auf Ibrahim und er kommt und kommt
nicht zurück vom Telefonat mit seiner Tochter in Mauretanien.
Meine Sorge um einen erwachsenen, kräftigen Mann steigt und
steigt, bald werde ich ihn suchen müssen, da kommt er doch
noch. Er ist niedergeschlagen, hat sich verirrt und sagt, „je
suis perdu.“
Schliesslich
übernimmt denn doch der erste Transiteur den
Fall. Und als der Lastwagen am Quai vor dem offenen Schlund der
Fähre wartet, zurück nach Spanien, müssen
wir sein Heck permanent im Auge behalten, damit die Buben und jungen
Männer, die es bis hierher geschafft haben, sich nicht im
Computergerümpel zu verstecken versuchen. Als ich mich des
Experiments halber mal etwas entferne, hängt sofort einer an
der Laderampe und ist schon halb unter Plane verschwunden. Ich muss ihn
von seinen Hoffnungen wieder entbinden und herunterholen.
Doch
alles kostet Tage an Zeit und Geld, Ibrahims Geld, das
schliesslich zur Neige geht nach der Überfahrt zurück
nach Algeciras und weiter über Land nach Cadiz, wo die Schiffe
nach Mauretanien fahren. Und als der Lastwagen schliesslich im Hafen
von Cadiz steht, parkiert vor der riesigen Fähre nach Las
Palmas, da kann Ibrahim dessen Transport nicht mehr bezahlen, denn
nicht wie sonst für ihn gewohnt und durchaus üblich
danach, sondern zuvor will der Spediteur Cash sehen. Es bleibt uns nur,
möglichst rasch „meinen“ Mitsubishi nach
Mauretanien zu fahren und zu Geld zu machen, um damit dem Lastwagen das
Schiff zu spendieren.
Cadiz
ist wohlhabend, schön und aufgeräumt. Cadiz ist
der Ort, wo die reichen Mauretanier ihren extraterritorialen
Stützpunkt haben. Cadiz ist ein Traum von Ibrahim, der Traum
vom erfolgreichen Geschäftsmann zwischen den Welten, vom
Atlantik auf drei Seiten umspült, am Ende von Spanien und am
Ende von Ibrahims Ressourcen. In Cadiz scheint es keine Marokkaner zu
geben, nichts Arabisches, ausser vielleicht die unsichtbaren reichen
mauretanischen Landsleute. In Algeciras dagegen war es schwierig, an
der Hafenfront Alkohol zu trinken, fast alle Geschäfte und
Restaurants sind in arabischer Hand, sogar Tunesier haben sich
eingefunden. Doch Ibrahim ist glücklich in Cadiz, ist froh nur
Spanier zu sehen, hat richtig die Schnauze voll von allem Arabischen,
von marokkanischen Zöllnern, Transiteuren und Ganoven, die ihm
Geld abknöpfen. Und Ibrahim hat auch genug von der
fast ausschliesslichen Präsenz von Männern im Hafen
von Tanger. Ja, Ibrahim ist Schweizer, das ist er sich nicht mehr
gewohnt, die Frauen nur zu sehen, wenn sie den Abfall aus dem Haus
tragen und über die Böschung schmeissen.
Und
Ibrahim sagt, in Cadiz würde er gern leben. Doch ich
mache ihn darauf aufmerksam, dass die Leute hier abends vor
allem vergnügt neben Schweineschinken stehend Alkohol trinken.
Mich freut das zwar, Ibrahim aber weniger, und erinnert ihn bloss
daran, dass er bis jetzt und vor allem jetzt, nur zwischen den Welten
steht, ohne Erfolg. Doch Kaedi? Hilft vielleicht Kaedi, kann er
wenigstens da ankommen, wieder ankommen?
Von
Cadiz geht es zurück bis Tarifa, dort mit der schnellen
Fähre wieder übers Meer, dann rasch weg von Tanger,
ich mag es, Ibrahim hasst es verständlicherweise immer noch.
Dann auf die mautpflichtige Autobahn, ein Refugium für die
Gutsituierten. Und auf der fast schon europäisch modernen
Autobahnraststätte sollte doch eine Strassenkarte zu erhalten
sein. Doch nichts da, keine Karten. Aber eigentlich unnötig,
denn es geht ja einfach immer nach Südsüdwesten, der
Himmel ist klar, auch der Tag offenbart seine Lichtquelle. Aber der
Kellner reicht uns als Ersatz eine Tellerunterlage mit einigen sehr
rudimentären kartographischen Hinweisen, nicht zu vergleichen
mit dem, was in der Schweiz unter jedem Teller Pommes frites in der
Skihütte zu finden ist. Dann geht es zügig weiter,
Tag und Nacht, durch ein immer weniger grünes Marokko,
schliesslich durch 2000 Kilometer Wüste, ich fahre, Ibrahim
hat keinen Ausweis, nur Sorgen. Aber lachen tun wir trotzdem.
Ich
fülle schon mal den einen Reservekanister mit Diesel und
trotz den Sorgen führen wir angeregte Gespräche,
schon immer, auch in Tanger, das lenkt ab und ist angenehm. Wir
sprechen über Steiss, über Abdulatif, über
die Saharauis und die Polisario, die uns mit ihrem Radiosender
begleiten, deren Land wir durchqueren und deren widerständige
Meinung die Menschen uns laut und deutlich vortragen, vor allem mir,
von Ibrahim übersetzt, auf dass dies annektierte Land nur
nicht vergessen wird. Und wir sprechen von Kaedi, das immer
näher kommt, das Ibrahims Angst und Hoffnung zugleich
aufnimmt.
Die
Westsahara ist für europäische Wahrnehmung ein
leeres Land, eine gleichförmige Wüste. Es ist
offensichtlich, dass die Bewohner dieses dünn besiedelten
Landes keine Chance hatten, sich gegen das ungleich stärker
bevölkerte und auch andersartige, fruchtbar grüne
Marokko zu erwehren, nachdem die Spanier 1975 ihre ehemalige Kolonie
aufgaben und den gierigen Nachbarn überliessen. Hassan II.
versuchte mit dem propagandistischen Grünen Marsch, einem
Ansiedlungstreck von über 300000 Marokkanern, den
marokkanischen Anspruch auch bevölkerungsmässig
durchzusetzen. Ein oberflächlich betrachtet leeres Land, das
auch heute noch nur 350000 Einwohner zählt, wurde annektiert,
und geriet in die Interessenmühlen der drei Nachbarn und jene
des kalten Krieges. Mauretanien zog sich später
zurück, um die Beute Marokko zu überlassen. Algerien
beherbergt noch heute das Hauptquartier der POLISARIO und die meisten
saharauischen Flüchtlinge.
Und
so fahren wir an neuen Siedlungen vorbei, die leer stehen, an der
Strasse in der Wüste und an solchen, die an
Westerndörfer erinnern, breite Strasse, wenig Häuser,
ringsum Wüste. Doch diese Strasse in der Wüste hat
zur Rechten immer den Atlantik und darin schwimmt der Reichtum der
Westsahara, Fische. Und die Wüste selbst gibt viel Rohstoffe
her, vor allem Phosphat, das auf endlos langen
Förderbändern zur Verschiffung ans Meer transportiert
wird. Für diese Schätze hatte sich der verstorbene
König Hassan II. wohl am meisten interessiert. Die Bewohner
waren allerdings lästig und sind es bis heute. Ibrahim
fühlt sich ihnen verbunden und tatsächlich tragen
viele Leute mauretanische Gewänder, sprechen einen eigenen
Dialekt haben Gesichter, die eher an jene der hellhäutigen
Mauren erinnern und spielen im Radio dieselbe Musik wie die
Mauretanier; blechige Gitarrentöne, die stark an die bei bei
uns bekannte Musik aus Westafrika erinnert. Und betrachtet man Karten,
Klima und Topographie würde man dieses Land wohl ebenfalls
eher zu Mauretanien als zu Marokko schlagen.
Es
war durchaus eine gute Idee, den Lastwagen über Land zu
transportieren, denn so hätte er in Mauretanien
eingeführt werden können ohne sofort Zoll zu
entrichten, was Zeit geschaffen hätte, schon mal etwas zu
verkaufen, vor allem die Computer, die in Mauretanien sowieso zollfrei
sind. Doch nun muss nicht nur der Transport per Schiff teurer bezahlt,
sondern am Hafen in Nouakchott oder Nouadibou auch der Zoll vor
Übernahme des Lastwagens entrichtet werden. Und ich hoffe mit
Ibrahim zusammen, dass, wenn nicht der arabische Schlüssel,
dann vielleicht der etwas spezifischere mauretanische
Schlüssel hier vielleicht einige Türen
öffnen kann.
Doch
vorerst halten uns noch die marokkanischen Polizisten an, und ich
kann sie nur wärmstens empfehlen. Alle reichen einem die Hand,
fragen freundlichst nach Befinden, Her und Hin und immer nach dem
Beruf. Marokkanische Polizisten scheinen eher vom Ministerium
für Tourismus angestellt zu sein. Egal ob man
überladene Lastwagen via Sicherheitsstreifen
überholt, oder das 60er Schild in der Wüste, 500
Meter vor der mit drei Häusern begleiteten Tankstelle mit 80
passiert hat (stolz bekommt man das Messergebnis auf dem modernen
Messgerät gezeigt). Milde und Güte herrschen vor und
ermöglichen es, den bestmöglichen Eindruck von den
staatlichen Organen dieses Landes zu erhalten.
Überhaupt
darf ich auch vom marokkanischen Verkehrsteilnehmer
nur Gutes berichten. In der Stadt halten sich alle an das Tempolimit 40
und fahren gesittet und entspannt, zweifellos auch durch das
allgegenwärtige Auge des Gesetzes immer heftigst angemahnt. Da
sind zum Beispiel Aegypter von der andern Seite Nordafrikas ein
ziemliches Stück forscher in ihrem Verkehrsverhalten. Denen
fehlt auch diese königliche Melancholie. Mubarak schaut eher
grimmig und entschlossen von seinen Plakaten herab.
Und
wenn man also auf der schmalen und wenig befahrenen Asphaltstrasse
immerzu fährt und fährt, erreicht man die Grenze, das
heisst, erst das Niemandsland, drei Kilometer ohne Strasse, noch immer
mit Minen gespickt, Reste des Krieges zwischen Marokko und Mauretanien
um die Westsahara. Es heisst, man solle nicht vom Weg abweichen, doch
der Wege sind viele, und dass nicht alle nach Mauretanien, aber
vielleicht ins Paradies führen demonstrieren drei Wracks
gleich zu Beginn.
Auf
der andern Seite dann, nicht im Paradies, warten die mauretanischen
Polizisten und ein paar Meter weiter die Zöllner in ihren
Verschlägen. Etwas ist anders, nicht nur die Hautfarbe. Der
Ton vielleicht? Barscher oder stolzer? Auch das Tenu ist
praktischer und militärischer, aber die Stiefel ziehen die
Staatsdiener hier gern aus und deponieren sie vor der Hütte.
In Mauretanien repräsentiert sich die Staatsmacht
eigensinniger, weniger berechenbar und hockt in Hütten, nicht
wie in Marokko in Steinhäuschen. In Mauretanien herrscht eben
kein König, dafür beginnt Kaedi zu wirken. Kaedi
ermöglicht es uns, direkt nach Nouakchott durchzufahren und
nicht den Konvoi abzuwarten, der zur grossen Zollstation, 60 Kilometer
weiter nach Nouadibhou führt und Zeit und Geld kostet. Ibrahim
verdankt es dem Offizier, selbstredend aus Kaedi stammend, mit ein paar
Euro, nach dessen Entscheid, nicht zuvor.
So
geht es zügig weiter. Weitere 600 Kilometer durch die
Wüste auf bester, neuer Asphaltstrasse. Wir sehen den riesig
langen Zug, der Erz aus der tiefsten Wüste an den Hafen von
Nouadibhou karrt, einer der drei grossen Schätze dieses
Landes, akkumuliert im herausgeputzten Cadiz? Neben der Strasse sieht
es ärmer aus, Hüttensiedlungen begleiten das neue
Aspahltband, und Tankstellen, etwas weniger raffiniert als die
marokkanischen, die auch schon recht rudimentär waren. Die
Strasse aber ist schlicht perfekt und führt uns durch eine
abwechslungreichere Wüste als die Westsahara. Früher
führte der Weg über hunderte Kilometer dem Stand
entlang, den man grösstenteils nur bei Ebbe befahren konnte
und dabei tunlichst vermeiden musste, nicht steckenzubleiben, bis die
Flut einen in unerwünschter Weise befreite.
Dann
vor Nouakchott erwartet uns die erste Polizeikontrolle, und
Ibrahim ist ganz erfreut. Denn Sicherheit ist ihm wichtig, Sicherheit,
dass der Umsturz vor ein paar Monaten nicht
zurückgestürzt wird und der alte Herrscher in Katar
im Exil bleibt. Immerhin fahren wir verdankenswerterweise auf dessen
Superstrasse. Doch auch die Putschregierung hat sich einiges
vorgenommen. Der neue Präsident will nach ein paar Jahren
zurücktreten und einem sauber gewählten Oberhaupt
Platz machen. Wir werden sehen.
Der
Polizist gibt uns wie die Marokkaner die Hand, interessiert sich
dann aber sofort für Ibrahims Tranistorradio. Er lehnt sich
herein und befiehlt es sanft zu sich, um es minutenlang zu kneten und
seine grosse Sympathie für dieses wunderbare Stück
Elektronik wie einen Sermon herzusagen. Doch bekommen tut er es nicht.
Wir fahren weiter und lassen ihn allein in seinem Verschlag
zurück, wo zweifellos das Teewasser schon wärmer wird.
Irgendwann
kommt jede Strasse an ihr Ende, das Ende dieser Strasse geht
so. Mitten in der Wüste bekommt sie vier Spuren. Dann sieht
man am Horizont die ersten Häuser von Nouakchott, die reichen
Viertel, die Wände weiss. Ein paar Kreisel, der Verkehr nimmt
zu. Dann Beginn der aermeren Viertel, der überwiegenden
Mehrheit der Viertel, und fertig ist der Teer, der Goudron, wie man
hier andauernd auch in Arabisch sagen wird, sinngemäss etwa,
“nimm den Goudron etwa 300 Meter weit, dann links
ab“. Eben dieser Goudron fehlt in dieser Stadt
grösstenteils, allergrösstenteils. Strasse heisst
hier erst mal Lagerstätte für Abfall, der dann von
den Eselkarren und von Autos plattgewalzt und im Sand vergraben wird.
Doch nicht alles ist Abfall. Plötzlich kann sich aus einer
Reihe scheinbar deponierter Schrottautos eines beleben und sich wieder
in den Verkehr eingliedern. Es ist kein Vergleich zu arabischen
Ländern, auch wenn man arabisch spricht. In Nouakchott ist
fast alles richtig armselig und dreckig, aber die wenigsten Bewohner
wissen das wohl. Verkehrsregeln und auch Verkehrspolizisten sind nicht
ersichtlich, was aber durchaus angenehm ist. Nachts stehen
Pannenfahrzeuge unbeleuchtet mitten auf dem Goudron und nicht im
Sandstreifen daneben. Dieses Phänomen zeigt sich mehrmals, als
ob
System dahinter steckt.
Doch solch ein Hindernis ist weniger aergerlich als die hohen
Sandwälle die plötzlich im Wege stehen und nur
stellenweise über schon ausgefahrene kleine Pässe
überquert werden können. Es sind Relikte aus der Zeit
des Umsturzes, als die Bauarbeiten für die Teerung einiger
Abschnitte bis zum heutigen Tag zum Stillstand kamen. Doch rasch
gewöhnt man sich an vieles, nicht alles. Und grad der Verkehr
ist der Löcher und Wellen wegen in seinem eigenartig
jahrmarktartigen Auf und Ab sowie Hin und Her für mich als
Tourist durchaus heiter.
Nouakchott
wurde nach der Unabhängigkeit zur Hauptstadt
gemacht, des Kräftegleichgewichts wegen und wuchs in knapp 50
Jahren vom Dorf zur knappen Millionenstadt in der Wüste heran.
Die meisten Bewohner von Nouakchott sind nicht hier geboren. Nouakchott
ist der Ort, wo man hin muss, um Geschäfte oder Politik zu
machen und danach möglichst rasch wieder ins Dorf
zurückkehrt. Nouakchott sagt, wir sind Mauretanier, wenige
sind weiss, die meisten schwarz. Früher waren wir
auch Sklavenhändler, heute verkaufen wir Erz und
Fisch und bald auch Oel, einige wenige jedenfalls, die andern wohnen in
den Dörfern und warten auf ihre Söhne und auf
Brosamen von diesem versteckten, für einfache Leute nicht ganz
einfach interpretierbaren Reichtum. Und Nouakchott sagt, wir sind nur
drei Millionen in diesem Land von einer Million Quadratkilometern. Wir
wohnen nicht in Städten, wir wohnen in Zelten, wir wollen gar
keine Stadt, aber leider müssen wir eine haben, heutzutage
müssen wir eine haben, aber nein, interessieren tut uns eine
Stadt nicht, sie ist dreckig und hässlich, weil sie uns eben
nicht interessiert.
Nouakchott,
am Meer und in der Wüste gelegen, sagt auch
über seine Erbauer, wir interessieren uns nicht für
Fischfang, denn wir sind Söhne der Wüste. Es sind die
Senegalesen und Togolesen, die in pittoresken Booten den lokalen
Fischfang betreiben, derweil russische oder japanische Fabrikschiffe
von den vielen Fischen vor der Küste etwas
abschöpfen, wahrscheinlich zuviel, so Ibrahim, der als Maler
und Alibimauretanier auf einem russischen Trawler mitgefahren ist. Und
die Bewohner aus den südlichen Nachbarländern, die
möglicherweise schon die Mehrheit in dieser Stadt stellen, die
sieht man auch handwerklich arbeiten, Metall, Holz, Elektrik sowie auch
Transport und Dienstleistung in noch handfester Weise, nämlich
als Eseltreiber und Hausangestellte.
Nach
dem Umsturz liess der neue Präsident die Strassen
reinigen, das ist jetzt einige Monate her. Aber es gibt auch
Wichtigeres zu tun, zum Beispiel den Oelminister verhaften, der noch
aus dem Bestand des alten Regimes übrigeblieben ist, und die
Einnahmen für anderes vorgesehen hatte als den Staatshaushalt,
nämlich die Bestückung privater Bankkonten in andern
Ländern, vielleicht auch in der Schweiz. Da aber in Erwartung
von etwaigen Mehreinnahmen, schon höhere Gehälter an
Staatsbeamte ausbezahlt und diverse Ausgaben getätigt wurden,
muss nun Geld vorerst noch auf andere Weise eingetrieben werden. So
sind die Zollgebüren erhöht worden, auch für
Ibrahims Lastwagen. Das ist der Preis fürs Reinemachen. Der
Präsident hält eine Ansprache im Fernsehen und
verspricht, den luschen Vertrag mit Woodside, der Firma, die im Februar
als erste mit der Oelförderung im Schelf hätte
beginnen sollen, aufzukünden oder neu zu verhandeln.
Das
sind die Geschichten, die das Oel schmiert. Und Mauretanien wird so
in neue Welten getragen. Noch vor wenigen Jahren hat in Nouakchott
niemand sein Geschäftslokal abgeschlossen. Und auch wenn das
sich geändert hat Ich hatte keine Angst, hier
beraubt oder belästigt zu werden. Gastfreundschft, Sanftmut
und gesunder Stolz herrschen vor und nicht zuletzt ist Mauretanien ein
Islamische Republik, das hat für Europäer
auch Vorteile.
Wir
kommen unter bei einer Bekannten, Exfrau des Gouverneurs von -
natürlich - Kaedi. Sie liegt den ganzen Tag in den Kissen, den
ganzen Tag, so ist das hier mit den Frauen, den wohlhabenden
jedenfalls. Sie ist die Vorsteherin eines besseren Hauses, hat aber
trotzdem keinen Goudron vor der Tür. Und ich entdecke, dass
westliche Einrichtungen wie Badezimmer auch bei entsprechenden Mitteln,
nicht wirklich geschätzt werden und wie Fremdkörper
wirken. Doch immerhin, wir müssen unsere Notdurft nicht auf
der Strasse verrichten. Dafür bringt uns der Diener alle
Viertelstunde Tee und alle drei Stunden ein üppiges Mahl und
Ibrahim versichert mir, dass die Ziege nicht vom Verschlag draussen auf
der Staubstrasse kommt, wo sie Fliegen bedeckt hängen. Und
wenn auch, ich bin zufrieden und herzlich aufgenommen in
diesem Haus, dessen Tür Tag und Nacht offen ist.
Es
gibt in dieser Stadt fast nichts für Touristen. Zwei, drei
teure Hotels sind die einzigen Orte, wo man mit Kreditkarten bezahlen
kann,
weder auf der Bank noch bei Fluggesellschaften weiss man etwas damit
anzufangen. Restaurants oder Cafes gibt es nur einige wenige in den
reichen Vierteln, wo auch Internetcafes zu finden sind, ein Cyber, wie
man das hier nennt, wo vom Aufpasser auch darauf geachtet wird, dass es
anständig zu und her geht auf den Bildschirmen. Und als
Europäer wird man ausserhalb des Hotels beinah keinen andern
Europäer treffen. Einen jungen Mann habe ich gesehen, einen,
von weitem.
Trotz
der also netten und sympathischen Unterbringung,
beginne ich wieder vermehrt von Schweinskoteletten auf einem eigenen
Teller zu träumen, dazu vielleicht einen Beaujolais, finde ich
nicht schlecht zu Schweinefleisch, und richtig stabile Gabeln und
Messer, so wie in französischen Filmen, die sich mit den
Katastrophen der Bourgoisie beschäftigen, was für
eine schöne besoffene und lächerliche Welt, ich
vermisse sie, diese Welt weit weg. Hier dagegen Tee und Harmonie,
freundliche Menschen, die einem bedingungslos und freudig
Gastfreundschaft gewähren und erstmal nur von einem reden,
Kaedi, Kaedi, Kaedi.
Was
nur würde Steiss zu all dem meinen? Er wäre der
dickste und kleinste erwachsene Mensch weit und breit und
könnte aber immerhin den weniger muslimisch angezogenen
schwarzen Frauen aus Senegal nachschauen, denn der dicke Steiss,
verheiratet mit der ebenso dicken Frau Steiss, mag gerne Frauen
hinterherschauen und hat auch, das ist wahr, durchaus Charme. Steissens
Wurstfinger im Couscous mit vierzig andern schwarzen Fingern am
Ziegenrücken zerrend?
Tag
und Nacht treffen wir alle Cousins, die hier ihr Leben fristen und
leider nicht in Kaedi sein dürfen, und es wird beratschlagt,
was denn zu tun sei und natürlich wird Tee getrunken und vor
allem zubereitet, denn dies scheint wirklich die
Hauptbeschäftigung der Leute in diesem Land zu sein, Tee
zubereiten, endlos wird hin und her geschüttet und
schlussendlich ganz rasch getrunken. Auch in Büros, an
Bankschaltern (es gibt, glaube ich, nur eine Bank in Nouakchott) am
Flughafen, Tee, Tee, immer Tee. Nach dem Tee vielleicht ein Spaziergang
oder Spazierfahrt, um Grundstücke und Häuser
anzuschauen, denn dies ist Ibrahims, wie auch manches Schweizers wahrer
Reichtum, Immobilien. Als Nouakchott zu Hauptstadt erkoren wurde, gab
es als Zückerchen billig bis gratis Grundstücke
für die Dörfler, auch für Ibrahims Vater und
Grossvater. Das zahlt sich nun aus, und vielleicht wird der Verkauf
eines Hauses noch zur ungeliebten Notlösung, um den Lastwagen
nach Afrika zu bringen.
Und
der Bruder hat das Geld auch nicht, denn der Bruder ist das
Gegenstück zu Ibrahim und auch ein Dauerbrennerthema bei allen
Cousins. Der Bruder arbeitet viel und sogar erfolgreich in seinem
Transportgeschäft, aber ist zu lieb und grosszügig
mit seinen Geschäftspartnern und Fahrern, sodass alles Geld
rasch wieder abfliesst oder in faulen Krediten verdunstet. Da
würde Ibrahim allerdings härter durchgreifen.
Vielleicht funktionieren sie wirklich nur zusammen, driften in der Welt
herum ohne den andern Teil, einfach nicht komplett, einfach
„perdu“.
Oft
sitzen wir bei dem einen Cousin draussen vor dessen Holzwerkstatt
und trinken Tee mit dem halben Quartier. Vor uns näher an der
Strasse sitzt eine Frau, den ganzen Tag sitzt sie wie angewachsen da
und verkauft gekochte Kartoffeln, süsse Nüsse und
Früchte auf einem Holzschragen ausgebreitet. Sie ist der Kiosk
für die Schüler, die in den Pausen aus der Schule
gegenüber quellen und exakt dasselbe tun wie alle
Schüler dieser Welt, Peergroups bilden und naschen.
Wenn
zwei erwachsene Mauretanier sich begrüssen, tauschen sie
ein bis zwei Minuten lang gleichtönende Protokollkfloskeln
aus, in denen ganz formell der Zustand der Familie abgefragt wird und
schauen dazu in verschiedene Richtungen, als wären sie
vollkommen desinteressiert am Gegenüber. Dem Andern in die
Augen schauen ist gefährlich, hat der Prophet gesagt. Doch ist
der offizielle Teil vorbei ist, tritt auch der Prophet zurück,
und die Blicke finden sich wieder, warm, freundlich,
verführerisch.
Und
natürlich besuchen wir auch Ibrahims zukünftiges
Cyber. Das Haus, das ihm gehört, liegt im fünften
Bezirk, wo es wirklich nur Staubstrassen gibt und kein anderes Cyber
weit und breit. Entweder wird es keine Kundschaft haben, weil die
Menschen zu arm und auch zu wenig alphabetisiert sind, oder es wird
tatsächlich ein Bedürfnis befriedigt werden. Die
Leute jedenfalls fragen dauernd, wann es denn soweit sei, denn das
Ladenlokal ist schon entsprechend beschriftet, die alten Computer und
Kopierapparate aus der Schweiz von einem früheren Transport
schon aufgestellt. Es fehlt nur noch der Finish und die Klimaanlage,
die weit weg in Cadiz auf die Verschiffung wartet.
In
Kaedi warten sie derweil jeden Tag, warten auf Ibrahim und seinen
Freund. Seit Tagen, ja bald Wochen eilen die Eltern bei Staub am
Horizont
erwartungsvoll zur Strasse. Die Enttäuschung ist gross, dass
mir keine Zeit mehr bleibt, den Ort zu besuchen, der wirklich
zählt, der sozusagen wirklich ist, das Dorf in der Provinz
Kaedi, Ort der Liebe und auch Ort der Sorgfalt und Sauberkeit, die Nabe
von Ibrahims Mühle. Dort könnten wir beide ganz
Mühle sein und Don Quichotte hinter uns lassen. Dort
wären sie überhaupt froh um neue Mühlen und
auch Pumpen und Schläuche, Dieselmotoren oder
Solarpanels.
Dafür
besuchen wir einen weiteren fernen Verwandten aus Kaedi,
den Sekretär des Ministeriums für auswärtige
Angelegenheiten, vielleicht der wahre Schlüssel für
das Lastwagenproblem. Und ich glaube, da weiss man etwas anzufangen mit
Badezimmern, auch wenn ich es nicht benutzt habe. Doch der Herr des
Hauses ist nicht da, Staatsbesuch aus Mali, schade. Das Jackett
wäre für ihn gewesen.
Tanger
hat uns Zeit gekostet und ich fliege ab, ohne Kaedi besucht zu
haben. Der Flughafen ist eher Hangar, das Personal mürrisch,
keine flotten hübschen Groundhostessen, nur ein
älterer Herr mit einer derart schief sitzenden Brille, dass
ich wirklich Angst habe, sie könnte ihm jeden Moment von der
Nase rutschen und vom Förderband zermalmt werden. Das
brächte dann sicher unangenehme Verzögerungen
für mein Check In, einem hier etwas unpassenden Begriff. Es
ist mehr eine Art Spiessrutenlaufen vorbei an mürrischen,
faulen, sicherlich zur Bösartigkeit neigenden Uniformierten.
Ohne Ibrahim verabschiedet sich das Land etwas unfreundlicher. Aber
wenn ich an manche Schweizer Grenzbeamte denke...
Im
Warteraum teile ich meine Biscuits mit dem Verkäufer
derselben, einem jungen Mann der mit mir über zwei Dinge
spricht. Erstens würde er gern mal nach Paris fliegen, er hat
da eine Tante. Aber so nah er diesem Traum physisch ist, schwierig,
schwierig. Er meint schmunzelnd, vielleicht im Flugzeugpneu drin... Das
zweite ist diese Karikaturengeschichte, von der ich
glücklicherweise auf der Reise fast gar nichts mitbekommen
habe und darum auch nichts richtig Fesches dazu sagen kann, was ich
später nach Aufarbeitung der Zeitungsberichte sowie Rotwein
und Schweinefleischkonsum ganz gern gemacht hätte. Allerdings
hatten die Zöllner sich doch sehr interessiert für
einen harmlosen Roman mit der zeichnerischen Abbildung von zwei Herren
auf dem Cover, aber Ehrenwort, keiner von beiden war der Prophet,
wahrlich nicht, wahrlich, es wahren nur elende englische Biertrinker.
Ibrahim
blieb zurück, endlich daheim, fast daheim, fast in
Kaedi und war im Moment des Abschieds ganz allein. Der mauretanische
Schlüssel ist nicht so golden, wie er glänzt. Der
Ministerialsekretär nicht zu Hause, der Bruder ohne
flüssiges Geld, die vielen Freunde zwar herzlich aber halt
doch arm, die hellhäutigen maurischen Autohändler
garstig im Verhandeln. Die Eltern, sie warten. Kaedi, es wartet, aber
aus der Nähe wartet es jeden Tag etwas
gleichgültiger, etwas hilfloser und ratlos wie Welt
so ist,
voller Tee, voller Liebe, aber einfach ratlos. Doch Inshallah, ich bin
ein schlechter, hässlicher Schweinefresser, wie rede ich nur,
es kommt schon gut.
Und
später, wenn ich ihn aus Zürich in Kaedi anrufe,
wird Ibrahim bester Laune sein, wird daheim sein, auch wenn der
Lastwagen nur langsam, durch immer neue Probleme verzögert, an
seinen Bestimmungsort dampft, Papiere ihre Gültigkeit
verlieren, Mieten ausstehend bleiben, Frau und Kind warten,
Windräder sich in ganz unterschiedlichem Tempo drehen, und
Ibrahim Woche um Woche länger und länger bleibt, in
Kaeidi, in Nouakchott, in Nouadibou, dazwischen Tee trinkt, Fisch und
Reis isst und dann, wenn er nach Monaten endlich wieder zurück
ist, blank von allem Geld, auch hier Tee trinkt und trotz allem
Ungemach immer noch träumt vom grossen Geschäft, von
den afrikanischen Möglichkeiten, dem schlummernden Reichtum
und mit mir und Steiss zusammen, von Kaedi.
Ich
fliege heim, meine Grosseltern waren auch Bauern. Immer wieder habe
ich dies Ibrahim erzählt, dass auch ich ein Fremder bin, dass
auch ich nicht in dem Haus lebe, wo ich geboren wurde, dass auch mir
das Dorf
noch am Herzen liegt, dass er nicht allein im Wind steht. So drehen
sich alle unsere Windräder, doch Ibrahims Rad ist sehr gross
und weitgespannt, es fängt sehr viel Wind ein auf
8000 Kilometern. Ich hab nur 80, Steiss nur 800 Kilometer. Es
ist halt schon verdammt weit weg, dieses Kaedi.
Air
Maroc lässt seine Fluggäste von Frauen bedienen,
ganz normalen Flugbegleiterinnen in einem Hosenanzug. Das ist sehr
angenehm. Auch neben mir sitzt eine Frau, jung und hübsch und
taubstumm. Ich träne so dahin, da stupst sie mich
an. Ich mache ihr Platz, sie muss aufs Klo und ich habe feuchte Augen,
nicht wegen einer Frau, wegen zwei Männern, die im Lastwagen
durch Spanien fahren. Und als ich mich auf ihren Fensterplatz setze und
hinausschaue, sehe ich sie wirklich, la Mancha.
"Don
Quichotte aus Kaedi"
von Heinz Emmenegger
Frühling 2006
Die Vorgeschichte in der
Wochenzeitung findet sich in der Rubrik Presse
|
Der
Statthalter
Zwischenreise,
2007
als PDF
Die
Sonne scheint, zuvor hat es geregnet in Schwerzenbach. Steiss, Toni und
der Statthalter sitzen nebeneinander auf dem Radkasten eines
Autotransportanhängers. Darum herum stehen die zu
transportierenden Autos in diversen Zuständen des Verfalls,
doch
immer noch zu verkaufen, die besseren hier, die mittelguten in Serbien,
die schlechteren in Afrika. Die drei Herren sitzen in der vermeintlich
geschlossenen Welt des Autoexports, wo Rudimentärdeutsch zwar
lingua franca, der Statthalter aber der einzige originäre
Schweizer weit und breit ist. Rundherum ist Vorstadt, unschön
gewachsene Vorstadt, breite, aber krumme Strassen,
Riesengebäude
sowohl für Produktion wie Konsumation, dazwischen Brachland,
eine
architektonische Hölle oder doch ein Ort der Inspiration?
Steiss
trägt einen überhängenden Bauch vor sich her
und heisst
eigentlich Staic. Sein mürrisches kleines Gesicht versteckt
ungeahnte Freundlichkeit, seine dicken Finger sind fähig,
rasch
aufeinander Buchstaben zu einer SMS zusammenzustellen. Um Tonis
schwarzen Hals baumelt ein Kreuz. Toni ist klein wie Steiss,
trägt
aber anstatt Bauch sehr viele Muskeln mit sich herum, geformt von der
täglichen Arbeit mit Altpreifen, welche er in seine Heimat
Nigeria
verkauft. Der Statthalter schreibt diesen Bericht und hat vor einer
Woche für seinen in Mauretanien weilenden Freund Ibrahim die
Platzmiete von Toni eingetrieben, der die 1700 Franken mit ein paar
Bündeln Zwanzigernoten beglich. Davon bezahlte der
Statthalter 700 dem Türken, der auf dem Areal ein
Lebensmittelgeschäft mit daran angeschlossenem Restaurant
führt und den an Ibrahim vermieteten Platz wiederum vom
Schweizer
Grundbesitzer gemietet hat. Toni hat also drei Platzherren
über
sich. Ibrahim zwei bis einen. Steiss einen.
Der Statthalter muss
aber nun nicht mehr Statthalter für Ebene 4 sein,
denn
Ibrahim ist zurück. Der Statthalter hat ihn am Flughafen
abgeholt,
als er von Nouakchott über Casablanca nach Zürich
zurückkehrte, in der Aktentasche ein paar tausend Euro. Noch
dunkler war er geworden, noch stärker zeigte das Weiss seiner
Augen, dass er den Statthalter suchte, um von diesem
empfangen zu
werden.

König wurde Ibrahim schmeichelhalber von Sahbi
genannt. Sahbi ist Libanese, etwa 50 und trägt bei diesem
Regenwetter einen kecken, breitkrempigen Hut, es ist der Hut eines
Mittelmeerkindes, der einen Lexus fährt, seine
Geschäfte aber
in einem schäbigen alten Wohnwagen abwickelt und nicht mit
Zwanzigernoten, sondern scheinbar ausschliesslich mit Tausendernoten
bezahlt, die er in Bündeln in seinem Hosensack
mitführt.
Akute Platznot hat ihn dazu geführt, sich bei Ibrahim auf
Ebene 3
und 4 einzumieten. Sahbi und Ibrahim sind die weitaus
elegantesten Personen auf diesem Platz. Zehn Meter entfernt von Steiss,
Toni und dem Statthalter, schreien sie sich an, lange und laut schreien
sie arabisch aufeinander ein, sodass wir drei nichts verstehen, aber
doch wissen, worum es geht. Wir warten, sie schreien in ihrer
Muttersprache, die Mütter 5000 Kilometer voneinander
entfernt, die Söhne einen Meter, die Sprache fast null.
Toni
steht auf, hält ein kurzes, eindringliches, und ebenfalls sehr
lautes Referat vor Steiss und mir, um nochmals zu unterstreichen, was
für ein schlechter Mensch der Libanese sei, denn was hat er zu
Ibrahim vor ein paar Wochen gesagt: „Ibrahim, der Libanese
wird
dich betrügen.“ Dann setzt er sich wieder, entspannt
sich
und harrt mit uns zusammen still auf den Ausgang des lauten Disputs auf
Ebene 4. Tonis Temperament, kombiniert mit den fahrigen Bewegungen
seines Muskelarms, würde Ungewohnte zweifellos in Angst und
Schrecken versetzen. Steiss, der Statthalter und all die andern
durchweg männlichen Benutzer dieses multikulturellen
Arbeitsplatzes nehmen es aber gelassen. Toni kann nicht anders, er
teilt diese für europäische Gemüter
aggressiv wirkende
Streitkultur mit seinen Landsleuten, die alle laut und bewegungsreich
ihre Kontroversen austragen.
Toni kämpft um seinen Platz
und schreit. Sahbi kämpft um sein Geld und schreit auch. Toni
und
Sahbi bilden eine unglückliche symbiotische Gemeinschaft.
Sahbi
verkauft seine alten Autos an Afrikaner, die sie mit dem Abfall unserer
Gesellschaft füllen, der sich in Afrika rentabel auffrischen
und
wieder verwenden lässt. Sahbis Trumpf ist der Platz zu dem er
normalerweise leichter kommt als die Afrikaner, es ist der Transport,
den er organisiert und kontrolliert und die vielfältigeren
Destinationen, die er bietet, denn Libanesen wohnen weniger in Libanon
als auf der ganzen Welt.
Doch die Nigerianer würden
sich gern emanzipieren. Toni hat von Ibrahim einen kleinen, etwas
abgeschotteten Platz gemietet, den will er halten, und wenn er mit
Steiss gut zurechtkommt, gibt ihm der vielleicht noch sein
Stück
gleich nebenan dazu. Auch Sahbi hat von Ibrahim Platz gemietet, den
dieser wiederum von Steiss und andern Platzherren diverser Ebenen
gemietet hat. Sahbi zahlt viel, er kann das oder gibt es zumindest vor,
von Ebene 1 bis 4 kann sich der Preis gern verfünfachen. Sahbi
musste seinen alten Platz für den Afrikahandel direkt am
Bahnhof
Oerlikon aufgeben und sucht einen neuen. Vor Ibrahims Abreise nach
Mauretanien legte Sahbi ein paar Tausendernoten aus seinem
Hosensack auf den Gartentisch des Restaurants des
Türken und
forderte Ibrahim auf, Toni zu künden und dessen Platz ihm zu
geben, denn: „Ibrahim, ich sage dir, Toni wird dich
bestehlen.“ Und Ibrahim war diesem Vorschlag durchaus nicht
abgeneigt. Doch die Kaskaden von Mietern und Untermietern wurden mit
dem Einzug des Libanesen in ihrem Gleichgewicht empfindlich
gestört. Zuviel Verkehr, Lärm, beschädigte
Autos,
Streitereien, eine Schlägerei sogar, der Platz ist in Aufruhr,
Verantwortlichkeiten müssen nun lautstark geklärt
werden.
Ibrahim
ist Scharnier, wenn auch knarrend. Seine Haut ist dunkel wie die Tonis,
seine Sprache arabisch wie jene von Sahbi, seine Pässe rot und
grün, sein Volk schon immer eines der Herren und
Händler.
Salz, Sklaven, Gold mussten durch die Wüste geführt
werden.
Ibrahim, kindlich reingläubig, idealistisch, herzlich,
schlecht
alphabetisiert, gibt nie Trinkgeld, kann nicht in Hotels schlafen,
verehrt Roger Federer, mag Ländlermusik, ist getrieben,
Händler zu sein wie sein Volk, das die körperliche
Arbeit
früher lieber Sklaven und heute den senegalesischen
Gastarbeitern
überlässt, und er will Händler sein wie
schon der
Prophet, der seine Nächte draussen verbrachte, unter freiem
Wüstenhimmel, inmitten seiner Ware.
Ibrahim ist gerne Herr,
vor allem in seiner Heimat, und er kann Toni schroff und erstaunlich
erfolgreich herumdirigieren. Doch Ibrahim kann auch 20 Stunden am
Stück hart arbeiten, gehalten von sich selbst und Allah. So
füllt er mit dessen Hilfe und der ganz menschlichen eines
Senegalesen einen 40 Fuss Container übers Wochenende mit
unverpackter Occasionsware auf; CD-Player,
Fernseher,
Computer, Velos und mit Kabelsalat gefüllte
Kühlschränke. Als Neuschweizer muss er
sogar sagen,
dass es für die Mauretanier langsam Zeit wird, vom
hohen Kamel abzusteigen und sich dem Produktionsprozess zu
widmen, so wie auch er in der Joghurtfabrik arbeitet, um dann doch bald
wieder zurückzufallen in maurische
Händlerträume.
Ibrahim
ist komplex, sowohl als Mensch wie als Maure, ist manchmal ein-
manchmal vielfältig und neigt zu Don Quichotterien, die der
Statthalter als Sancho Panso nicht immer zu verhindern weiss. Bis anhin
verlief Ibrahims Händlerkarriere nicht eben grossartig und
endete
meist verlustreich in von ihm selbst durch Idealisierung
weichgetrampelten bürokratischen Sümpfen. Die
schweizerischen
Gepflogenheiten des systematischen Mahnwesens kann er noch akzeptieren,
marokkanische Forderungen auf unserer gemeinsamen Reise mit einem
gefüllten Lastwagen in seine Heimat waren dann aber
für ihn
doch deutliches Zeichen für die Niedertracht dieses Volkes und
weniger seiner vielleicht mangelnden Vorbereitung, die sich auf in
diversen Autohändlerwohnwagen arabisch vorgetragene
Gerüchte
beschränkte. Zu einem weiteren Verhängnis
könnte nun
Ibrahims Bewunderung für die weltbekannte
Händlerseele der
Libanesen werden, also wahren Nachfolgern Mohammeds, Leute, die nie in
einer Joghurtfabrik arbeiten, sondern, so Ibrahim, überall auf
der
Welt ankommend, von ihren Landsleuten erstmal mit ein paar
Geldbündeln ausgestattet werden, um diese segensreich zu
vermehren. Was dem Don Quichotte der Ritter, ist Ibrahim der
Händler.
Ibrahim lachte mit dem Statthalter zusammen
über sich selbst und meinte es doch ernst, als wir alte
Chefsessel
in den Container luden, den er nach Nouakchott verschifft
hat, um
Wochen später mit den vielen Euros zurückzukommen.
Die
Chefsessel will er aufbewahren für unsere Rückkehr
ins
gelobte Land der Mauren. Ja, auch der Statthalter ist für
Ibrahim
ein Maure im Herz, ein „Ould“, ein Sohn eines
Mauren. Und
tief drinnen hofft Ibrahim sicherlich, er könne den
Ungläubigen doch irgendwann bekehren zum rechten Glauben und
mit
dem Statthalter in diesen Chefsesseln sitzen, während eine
maurische Frau im landesüblichen Gewand,
einem
indischen Sari nicht unähnlich, den beiden Herren anmutig den
Tee
zubereitet. Doch der Aufenthalt in Mauretanien, einem wirklich noch
exotischen, staubigen und zuweilen dreckigen Land zwischen den Welten,
weckte beim Statthalter ein starkes Bedürfnis nach Rotwein und
Schweinefleisch, nach etwas Dekadenz und Verwerflichkeit, das konnte
ihm auch die perfekte Gastfreundschaft mit Dauertrinken von Tee und
Daueressen von Ziegenfleisch nicht austreiben.
Ibrahim besitzt
in der Hauptstadt Nouakchott Grundstücke, bebaute, bewohnte
und
auch gänzlich brach liegende. Das ist der Voraussicht des
Vaters
zu verdanken, der nach der Unabhängigkeit Mauretaniens
günstig bis gratis in dem damals als künstliche
Hauptstadt
ausgerufenen Fischerdorf Grundstücke erwarb. Und Mauretanien,
ein
armes Land, beginnt Oel zu fördern, hat eben korrekt
abgelaufene
Wahlen hinter sich, organisiert von einem noblen Putschgeneral, der
sich selbst entmachtet hat. Ibrahim ist jetzt ein eigentlich
gut
situierter Herr in seiner Heimat.
Hier aber verteilt er mit
einem Handkarren Werbepost in des Statthalters gehobenem Wohnquartier.
Wenn der Karren leer ist, füllt er ihn mit alten Computern,
Fernsehern, Radios und was dieses schöne Quartier sonst noch
auf
die Strasse stellt oder dem „Afrikaner“ wohlwollend
mitgibt. Und auch dieser Bericht ist mit Hilfe eines
Apparates
aus Ibrahims Sammlung erstellt. Den Karren entlädt er im
Kellerabteil eines Geschäftshauses, dessen
Parkplätze
nur mit teuersten Wagen belegt sind. So treffen sich
Geschäftsleute, die einen haben Fenster, die andern
Holzverschläge.
Doch unterschätzen sollte man Ibrahim
nicht, er wird reussieren, auch wenn er jetzt schreien muss, und es ein
Fehler war, den Libanesen auf den Platz zu lassen. Denn Sahbi hat nicht
wie versprochen den sauberen, leisen Handel mit Limousinen für
Libyen aufgezogen, sondern den lauten, dreckigen mit den Afrikanern
weitergeführt. Auch Sahbi träumt und kann sich doch
nicht
lösen von seinen Symbionten, den Nigerianern, die
während
Ibrahims Abwesenheit in Scharen auf den Platz kamen, um Lieferwagen zu
begutachten, zu kaufen, zu füllen, zu schieben, zu leeren und
dabei mit den Autos rundherum, den Autos der gemächlichen
Serben,
die ihr Geld in Häuser in ihrer Heimat angelegt haben, mit
diesen
Autos der Serben also so umgingen wie mit ihren eigenen,
darüber
wegsteigen, darauf Ware deponieren, kratzen, drücken,
zerbeulen
und auch mal was mitgehen lassen.
Sahbi will sein Geld
zurück, denn er hat einen andern grossen Platz gefunden und
die
Serben wollten ihn sowieso nie, wollen ihn nun sofort weg
haben
und bitte mit Entschädigung. Toni, selbst Kunde von Sahbi, hat
sich gut gehalten, gut intrigiert, Sahbi schlecht hingestellt, sich
lieb und anständig benommen, war ein guter Nigerianer, besser
alles läuft direkt über ihn und nicht über
den
Libanesen, auch nicht über Ibrahim. Und tatsächlich,
Steiss
will seinen Platz Toni anstatt Ibrahim vermieten, mag Toni, wie er
schon Ibrahim mochte. Toni schafft viel, trägt
Werkzeuge mit
sich herum, ist Mechaniker, kann reparieren. Das gefällt
Steiss,
der weiss und es sagt, dass Ibrahim das nicht ist, dass Ibrahim
kompliziert und durchaus etwas ungeschickt ist und auf der Reise nach
Mauretanien keinen Gedanken an Kanister, Werkzeuge, Ersatzteile oder
ähnliches verschwendet hat, sondern nur an gepflegte Kleidung.
Der
liebe Steiss hat den Statthalter und Ibrahim nämlich bis
Gibraltar
begleitet, musste dann aber mit seinen serbischen Papieren kehrt
machen. Es war ein seltsames Trio, nicht einzuordnen. Und Steiss
würde in Mauretanien vollends aus dem Rahmen fallen. Einen
solchen
Wanst wie er ihn trägt, findet sich da unter den drei
Millionen
Mauretaniern kein einziger. Und Ibrahim und der Statthalter
befürchten, er könnte vor der nächsten
Gelegenheit dahin
zu fahren, einem Kreislaufversagen zum Opfer fallen.
Sahbi sagte
zu allen auf dem Platz, die vor der Schreierei mit Ibrahim sich
neugierig versammelt hatten: „Ihr wisst was meine Arbeit ist.
Meine Arbeit ist, Dreck zu verkaufen. Das ist meine Arbeit.
Also,
was wollt ihr? Ihr habt es gewusst“. Alle nickten oder
liessen
ein Nicken ahnen, denn die Serben haben nicht die Gestik und Mimik von
Toni, der diese Feststellung seines Symbionten mit jeder Muskelfaser
unterstrich, damit klar war, dass er ein properer und
verständiger
Nigerianer war.
Von den libyschen Träumen hatte Sahbi nur
dem Statthalter und Ibrahim erzählt. Aber es hat nicht viel
Platz
auf der Welt, weder für Autos, noch für Wahrheiten
und das
lässt sich manchmal nur schreiend ertragen und gilt
für alle.
Und auch der Statthalter konnte dem verqueren Lauf der Dinge nicht
Einhalt gebieten, fleissig hat er telefoniert mit allen Beteiligten,
hat versucht Grenzen zu erkennen, diese zu markieren, die Hierarchien
auszugleichen, doch das Gleichgewicht ist gestört, einer muss
gehen, der Libanese oder der Nigerianer.
Und der letztere
scheint bessere Karten zu haben, endlich mal, warum nicht, auch wenn er
mit einem Bündel 20er Noten bezahlt, die wohl etwas
Waschpulver
gebrauchen können, das damit wohl schon gekauft wurde. Toni
hat
sich eingerichtet, es ist ein Start up Unternehmen
sichtgeschützt
hinter Maschenzaun , Arbeitsplatz für Toni und seine
Gelegenheitsarbeiter, die meisten schwarz wie er, einer davon, der
Sudanese, etwas heller. Sie laden Reifen ein und um, stopfen vier Pneus
ineinander, versuchen Sie das mal selber, es ist eine wahre Kunst. Und
Toni legt sein Geld nicht auf Gartentische, sondern übergibt
es
heimlich, versteckt hinter dem Camion auf einen alten
Kühlschrank
hinzählend.
Der Statthalter war dies nicht nur für
einen Monat und 3000 qm, er ist möglicherweise sogar
zukünftiger Konsul von Mauretanien, dies als Schweinefresser
und
Weinsäufer. Denn Ibrahim ist sehr gut bekannt mit den
entsprechenden Entscheidungsträgern im streng muslimischen
Mauretanien. Unsere Reise dahin bedingt immer das Mitführen
guter
Kleidung, denn der Besuch beim Minister ist
selbstverständlich.
Als Halbalphabetisierter wird Ibrahim in der Funktion des Konsuls immer
einen Sekretär benötigen, auch Mohammed konnte nicht
schreiben und benötigte einen Aufschreiber für seine
Eingebungen. Dies also kann doch kein Hindernis sein. Oder wird er den
Posten direkt dem Statthalter übergeben? Es sind verwickelte
Aussichten.
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Bei
den Mauren
Zweite
Reise nach Mauretanien, 2008
als PDF
Die Braut kommt mitten in der Nacht in
unser Zelt, das Gesicht dunkel und unkenntlich wie die unbeleuchtete
Luft darum herum, das Kleid weiss, das letzte Licht tragend. Sie
bereitet Tee zu und schweigt.Wir trinken drei Aufgüsse. Des
Mauretaniers Leidenschaft ist der Tee und die Zubereitung durch die
Frau eine diskret erotische Darbietung. Ein paar Tage später
wird sie von den Freundinnen der Braut versteckt, danach von den
Freunden des Bräutigams in einem schwarzen Gewand gefunden, vom
Ross herab dem Schwiegervater vors Zelt gelegt und von der Schwägerin
mit Milch begossen werden.

Die Schule ist sechs Kilometer
entfernt. Draussen weht morgens ein starker Wind, der die Luft mit
Sand füllt und die Sicht einschränkt. So liesse es sich
leicht verirren. Das Dorf aber lässt niemanden allein, auch
nicht beim Gang in die Büsche, um jenes Geschäft zu
erledigen, dessen Ausübung der dauernde Teekonsum auf einmal pro
Woche eindickt. Diese Büsche, holzige Stengel mit fleischigen,
grossen Blättern, liegen 800 Meter vom Dorf entfernt. Dazwischen
ist, im Januar, drei, vier Monate nach der Regenzeit, alles
abgefressen und bildet eine grosse, rund ums Dorf herum abfallende
Fläche, bedeckt mit Kot von Kühen, Eseln, Schafen, Ziegen,
Hunden, Hühnern, die ja alle keinen Tee trinken.
Es folgen zum ausgetrockneten Bachbett
hin die abgeernteten Äcker, die während der Regenzeit von
mit niedrigen Dämmen leicht gestautem Wasser getränkt
worden sind. Doch jetzt findet sich Wasser erst fünf Kilometer
entfernt in vier Meter Tiefe. Es wird mit Eimern geschöpft, Vieh
und Menschen von Hand zugeführt oder in Kanister gefüllt,
um auf Eselsrücken ins Dorf zu gelangen. Dazwischen weidet das
Vieh das dünne, trockene auf dem sandigen Boden liegende Gras
ab. So gibt es immer nur Fleisch und Getreide zu essen. Kleine
Gärten, von den Frauen angelegt und handweise bewässert,
geben bloss eine Ahnung davon, was Salat, Gemüse und Früchte
wären.

Und das Wasser wird nicht mehr, immer
tiefer muss gegraben werden. Entweder sind es grosse, ungesicherte
Löcher, die eine erste saisonale Wasserschicht in ein paar Meter
tief anzapfen oder einige dutzend Meter tiefe mit Aesten oder Zement
armierte Brunnen. Auch die Bäume werden nicht mehr, viele wurden
zu Brennholz. Die Menschen sind sich der Problematik bewusst und
schätzen zumindest jeden der wenigen verbliebenen Bäume in
der nächsten Umgebung, die alle eine Geschichte haben. Doch
kochen müssen sie trotzdem, immerhin gibt es ein paar
Gasflaschen im Dorf und verbrannt wird zuerst Buschwerk.
Das Wasser kommt mächtig, wenn es
kommt und wirft noch als Regentropfen vom Wind getrieben ganze Häuser
um. So leben die meisten Dorfbewohner neben den Fundamenten ihrer
zerstörten Heime in Zelten. Um sie wieder aufzubauen, bräuchten
sie dasselbe Element, das sie zerstört hat, viel Wasser für
die Ziegelsteinproduktion. Das Zelt ist den Halbnomaden ganz recht.
Ziemen aber würde sich für Mauren ein hässlicher
Backsteinkubus. Für mein Auge die beste und schönste Lösung
ist die gemütliche, afrikanische Rundhütte, die aber nur
als Kompromiss und Notbehelf gebaut wird.
Es gibt keine Strasse, keinen Strom,
keinen Motor, kein Schreibpapier, keinen Radio und keinen
Fernsehempfang. Aber freundliche Menschen gibt es, die nach
Sonnenuntergang im Dunkeln sitzen und lachen. Ausser Mond und Sternen
bringt nur das kurze Aufleuchten von Taschenlampen etwas Licht.
Deren Batterien bilden nach Gebrauch zwischen den Tierfladen den
modernsten Abfall des Dorfes. Die grossen Kinder sammeln die runden
Batterieabschlüsse, weil sie wie Münzen aussehen. Die
kleinen Kinder aller Säugetiere schreien bei Sonnenuntergang
gemeinsam; Menschenkinder, Kuhkinder, Ziegenkinder, Schafkinder, alle
schreien eine Viertelstunde lang, dann ist es dunkel und ruhig.
Es gibt fast keine Bilder im Dorf.
Bilder aus meiner Welt sind schwierig zu verstehen und werden nicht
immer richtig herum gehalten. Doch es gibt nicht keine Bilder. Die
Bilder dieser Welt erzählen sich mündlich in weichem
Arabisch, einem schon afrikanischen Arabisch, einem freundlichen,
friedfertigen, gutwilligen Arabisch, dem Hassania. Erzählbilder
in Mauretanien erhalten einen Rahmen, das Protokoll. Die Begegnung
zweier Mauretanier beginnt mit einem emotionslosen, monotonen und
zuweilen mehr als eine Minute dauernden und ohne Augenkontakt
gehaltenen Zustandsbericht über die familiären
Verhältnisse. Erst nach diesem Protokoll schaut man sich in die
Augen, erzählt alles nochmals frei, traurig oder fröhlich,
berührt sich, debattiert, macht Witze, streitet nur kurz und
sucht sofort die Versöhnung.

Gerne möchte ich Alkohol trinken
und ausfällig sein, Schweinskoteletten verzehren und dumme
Sprüche in meiner eigenen Sprache machen. Ich möchte nicht
zusammen mit vielen andern Händen aus einem Topf essen,
Couscous mit Händen kneten und in den Mund stopfen. Ich möchte
meinen eigenen Teller, mein Besteck, mein Glas. Ich möchte nicht
vernünftig leben wie mein maurisches Dorf und wie Mohamed es
vorgetragen hat. Doch ich versuche ein Esel zu sein und gebe mich
hin. Einen Esel sollte man den Europäern als Heilsbringer
vorsetzen. Immerhin reiten Heilige ganz gern auf Eseln. Doch Esel
sein, das wollte noch keiner.
Esel lieben Asphaltrassen. Weg aus dem
Dorf, 100 weglose und wellblechige Kilometer südöstlich in
der Provinzstadt Kaeidi am Senegalfluss, wo es heisser und grüner
ist, da hat es eine Asphaltstrasse. Alle Tiere queren diese Strasse,
manche verrotten daneben. Esel aber gehen ihr entlang. Esel laufen
brav am Strassenrand, nicht auf dem Kiesstreifen, nein, immer auf dem
Asphalt laufen sie rauf und runter, hintereinander, allein, in
wunderbarem Gleichmut. Nie mehr will Ich Schlechtes hören über
Esel.
Schlechtes gibt es überall. Ich
kultiviere es zusammen mit allen weissen Schafen Schlag auf Schlag
als exakt gedrehte Schraubenwindungen, aufgedampfte Mikroprozessoren
oder einer alt gewordenen Feuilletonkultur. Hier wird dem weissen und
schwarzen Schaf für den ankommenden Gast der Hals aufgeschlitzt,
Richtung Mekka, mit einem Anruf der Vergebung, um es eine Stunde
später zu servieren, danach gibt es drei Runden Tee anstatt
Kräuterlikör. Schlechtes wird auch berichtet vom
Rinderbaron, der seine über 200 Rinder nicht an ein selber
gegrabenes Wasserloch führt, wie es sich gehört, der aber
nicht hören will, aus der Reihe tanzt, eine Familie führt,
die zu viel Milch trinkt, was eigensinnig werden lässt, oha!
Dabei sind wir Schweizer hoch angesehen, denn das Rote Kreuz und
dessen Derivat, der Rote Halbmond, das kennt man bestens. Schlechtes
berichtet wird auch vom Wolf, der die Schafe reisst und sich nicht
aufspüren lässt. Früher gab es auch Löwen und
begegnete man einem, war es angebracht, zügig und stolz wie ein
Löwe seinen Weg an dem andern vorbei zu gehen. Und wenn der
andere einem folgte, galt es, weiterhin unbeeindruckt bis ins nächste
Dorf zu marschieren, da erwartete den falschen Löwen Tee,
vielleicht ein Schaf und entspanntes Liegen und plaudern.
Stühle und Tische gibt es nicht,
auch nicht in der Stadt, Loungen scheint mir deshalb von hier zu
kommen und moderne Gitarrenmusik übrigens auch.Verblüffendes
lässt sich als Festmusik hören, eine Art melodischer
Freejazz mit Tamtam, Gitarre und etwas Karaoke im maurischen
Hochzeitszelt. Einige machen einen Mitschnitt auf altersschwachen
Kassettenrecordern mit ebenso alten Bändern, die sie nach jedem
Stück neu spannen und justieren. Die weiten tanzenden Kleider in
der schwach beleuchteteten Nacht wirken wie Gespenster. Mein Auftritt
macht mich weitherum berühmt in den Nachbardörfern, das ist
schön.
Ganz Westafrika hat uns wohl mehr
vermacht als uns bewusst ist und dies nicht nur freiwillig.
Unfreiwillig war jedenfalls der Umweg des schwarzen Afrikas über
den Atlantik, freiwillig jener der Herrschaft der weissen Mauren in
Spanien. Hier im Festzelt schwarzer Mauren kommt es irgendwie
zusammen.
Die Mauren und die Sklaverei. Das sagt
man ihnen ja nach, sie hielten noch immer Sklaven, obwohl offiziell
seit den Achtzigern verboten. Da liege ich bequem und gut versorgt
unter freiem Himmel in einem Dorf von schwarzen Mauren, die
vielleicht vor sehr langer Zeit selber Sklaven waren und vor langer
Zeit die Seite wechseln konnten und Herren wurden. In der Stadt hält
man sich Bedienstete. Karren ziehen und Dreckarbeit erledigen, das
tun da nur Schwarze. Es sind oft Einwanderer aus Senegal und Mali und
sicherlich auch ehemalige Sklaven oder deren Nachfahren, die noch
nicht den Weg nach oben gefunden haben, nicht aus der
Bedienstetenkaste wegkommen. Deren Herrschaften sind meistens weisse
Mauren, die bewegen sich eine Spur zackiger und stolzer, sind etwas
distanzierter und fahren die besseren Autos. Auf dem Land sind sie
es, die überhaupt Autos besitzen, gute, geländegängige
Autos, die man in meinem Dorf nie sieht. Doch ich hab es noch nicht
durchschaut, die Schichtungen und Verwerfungen, sie sind komplexer
als um sie nur mit Hautfarben und Automarken zu beschreiben.
Der Herr Professor, der die
Maturaprüfungen in der Hauptstadt abnimmt, meinte zu meinem
mauretanischem Freund Ibrahim, er solle mir alle Geheimnisse dieses
wunderbaren Volkes zeigen. Das wird sicher noch dauern. Eines ist
vielleicht, dass der Professor wie viele wichtige Leute der
Technokratie im mauretanischen Staat nicht alteingesessenen Familien
entstammt, denn diese wollten ihre Kinder lange Zeit nicht in eine
moderne Schule schicken. Schule war was für Arme und
Waisenkinder. Diese Kinder von Waisen und weniger angesehenen
Familien sitzen nun in den Büros in Nouakchott, wie der
Professor oder der Gouverneur von Nouakchott oder der Präfekt
von Aleg, alles Herren aus armen maurischen Familien, doch in ihrer
Jugend protegiert und gefördert von Ibrahims Vater, Patriarch
eines Saheldorfes, der mit seiner herzensguten Frau ruhig und
zufrieden im Zelt neben den Ruinen seines Hauses lebt.
Mein lieber Ibrahim, Prinz im Dorf,
Grundstücksbesitzer in der Hauptstadt und in seinem Mauretanien
überall von wohlwollenden Freunden und Verwandten umgeben,
verträgt in der Schweiz Zeitungen, verdient kaum genügend
Geld und kämpft mit den stumpfen Waffen des Halbanalphabeten
gegen die sich schriftlich ausdrückende Schweizer Bürokratie,
die in Mauretanien bei einem mündlichen Vorsprechen und
unterstützt von einem kleinen Entgelt eigentlich viel
effizienter funktioniert. "Kein Problem, ich kenne den Herrn,
der..." so beschwichtigte er meine Bedenken zu diversen
Ungereimtheiten in meinen Reisepapieren. Und tatsächlich, kein
Problem.
Ich werde Ibrahim heim nach Mauretanien
schicken, sobald und wann immer möglich. Und er will selber
heim, ist voller Sehnsucht, will nicht immerzu der einzige
Mauretanier in der Schweiz sein, einem kleinen, scheinbar
unschuldigen Land zwischen den Kulturen, bewohnt von geschäftigen
Viehzüchterseelen. Das erinnert ihn zwar an Mauretanien, deren
drei Millionen Einwohner ebenso unschuldige, korrekte und ehrliche
Viehhändler sind, zwischen schwarzem und weissem Afrika gelegen,
aber mit doch bedeutend mehr Platz ausgestattet, nämlich einer
Million Quadratkilometer Sand und Stein. Doch anstatt Wissen gibt es
in Mauretanien nur Erz und Fisch zu exportieren, deren Einkünfte
bis anhin relativ spurlos an an den Bewohnern vorbeigegangen sind.
In Europa und schliesslich der Schweiz
traf Ibrahim auf eine ungläubige Gesellschaft, die ihn nicht
einbinden konnte in ihre alkoholische, schweinisch bratwurstige
Geselligkeit. Ibrahims manchmal naiver Idealismus lässt ihn
gläubig ausharren an einem ihn vereinsamenden Ort, bis seine
Tochter ihn irgendwann wird entbehren können. Er ist wahrlich
treu und korrekt.
Der Herr Professor, der in einem von
Ibrahims Häusern in Nouakchott zur Miete wohnt, lässt es
gern zu einem Streitgespräch über die Vorteile von etwas
mehr Laizismus kommen, wenn er den Iman trifft, der mit uns im Dorf
den Schlafraum teilt und immer um fünf das Morgengebet
verrichtet. Mauretanien ist ein streng islamischer Staat. Doch weder
ist der Glaube und dessen Einfluss auf den Alltag den Leuten
aufgepropft wie im Iran, noch von bizarrer äusserer Strenge wie
in Saudiarabien. Der mauretanische Islam ist mild, versöhnlich,
kommt von Herzen, ist noch unverdorben und von westlichen Einflüssen
weitgehend frei geblieben. In diesem Land gibt es keinen Alkohol und
keine Kreditkarten und es scheint kein Bedürfnis danach zu
existieren. Bis jetzt. Denn nun schauen sie zumindest in den Städten
Fernsehen und ganz Westafrika staut sich am Senegal und will via
Mauretanien nach Europa. Auch die jungen mauretanischen Männer
möchten dies, dahin fahren, wo man Säue isst und Alkohol
trinkt. Das wird nicht einfach werden.
Die jungen Frauen dagegen bleiben
lieber zu Haus, bereiten das Essen und den Tee zu. Sie tun es gern
oder lassen sich Trübsal zumindest nicht anmerken. Doch die
Zubereitung des Tees zeigt denn doch etwas auf über die Stimmung
der damit betrauten Dame. Eventuelle Unlust zu Beginn, weicht
garantiert einer durch das Ritual erzeugten Gelassenheit. Die
Verheirateten sind offen und sogar fröhlich, die
Unverheirateteten vorsichtig und verschämt. Die Frauen tragen
weite, farbige Gewänder, die Männer den Boubou ein offenes
weisses oder blaues Flattergewand, einem Poncho nicht unähnlich.
Bei allem islamischen Patriarchismus, hadern tun die Frauen hier
nicht so sehr mit ihrer Rolle als Hausherrinnen. Dass es allerdings
in Nouakchott Frauen geben soll, die Auto fahren, ist wohl Ibrahims
Zweckmeinung einem zwiespältigem Modernisierungswillen zu liebe.
Ausser den weissen und schwarzen Mauren
wohnen in Mauretanien auch Minderheiten, die am Senegalfluss Ackerbau
betreiben sowie eingewanderte Senegalesen und Malier. Und so lässt
sich in der Hauptstadt ganz Afrika bestaunen. Die senegalesische Mama
gibt dabei das schönste Bild ab. Stolz und wohlgenährt
lässt sie sich von der farbig bemalten Pferdedroschke zum Markt
fahren, ebenso stolz marschiert sie in ihrem kecken, fantastisch
schönen Gewand zum Stand, das grosse, volle und schön
verzierte Portemonnaie vor sich her tragend.
Der senegalesische Mann hat auch was zu
bieten. Er fährt einen Mercedes 190 Diesel mit dem üblichen
Loch im Kühler und fährt auf und ab über die sandigen,
welligen von Unrat übersäten Strassen Nouakchotts, hält
unvermittelt mitten in irgendeiner Art Verkehr an, legt den Leergang
ein, öffnet die Fahrertür, steigt rasch und behände
aus, geht nach vorn, öffnet im selben Rhythmus die Kühlerhaube,
schraubt den Deckel des Kühlers ab, begibt sich zum Kofferraum,
öffnet auch diesen, entnimmt daraus einen kleinen Kanister oder
eine grosse Flasche Wasser, schliesst den Kofferraum, begibt sich
wieder entschlossen nach vorne, füllt den Kühler auf, zieht
am Gashebel, füllt weiter auf, verschliesst den Kühler,
lässt die Motorhaube fallen, läuft nach hinten, öffnet
den Kofferraum, wirft den Wasserbehälter hinein, schliesst den
Kofferraum, läuft zur Wagenmitte, steigt bündig ein, zieht
die Fahrertür zu, legt den Gang ein und fährt weiter. Diese
Darbietung gibt es immerzu und in für uns Europäer nicht zu
erreichender Eleganz zu bestaunen.

Vor einigen Jahren noch schlossen die
Händler in Nouakchott ihre Läden über Nacht nicht ab.
Heute tun sie es und Wächter gibt es auch vermehrt. Die Ränder
von Nouakchott wachsen jeden Tag um ein paar hundert Backsteine
weiter hinaus in die Wüste und ans Meer heran. Nouakchott ist
mit einer Million Einwohnern die grösste Wüstenstadt
Afrikas und das Scharnier zwischen weissem und schwarzem Arfrika.
Nouakchott wurde vor 50 Jahren nach der Unabhängigkeit vom
Fischerdorf zur Hauptstadt gemacht. Es gibt noch wenig städtische
Identität. Man trifft sich hier, um Geschäfte oder etwas
Politik zu machen und rasch ins Dorf zurückzukehren oder
zumindest immerzu davon zu träumen und vernachlässigt dabei
dieses immer noch als künstlich empfundene Gebilde, mit den von
Abfall übersäten Staubstrassen voller Eselkarren und sich
selbst regulierendem Verkehr aller Mercedes Diesel, die in Europa
nicht mehr erwünscht sind und wohl 90 % der mauretanischen
Fahrzeugflotte ausmachen. Das Ersatzteil ist das Kaufkriterium und
sagt so viel aus über die Probleme ganz Afrikas. "Wir
produzieren nichts.", sagt der Professor.
Auch in Europa fanden es die Bauern im
19. Jahrhundert nicht toll in Fabriken nach der Uhr zu arbeiten. Und
die friedlichen, gemächlichen Menschen aus dem Dorf mit den
schreienden Sonnenuntergangskindern, was sollten sie in einer Fabrik
verloren haben, ich gönne es ihnen nicht, Proletarier zu werden.
Sie leben im Paradies, das wir verloren haben und gelegentlich wieder
suchen. Und doch steckt in jedem einzelnen Dorfbewohner die Neugier
und der Drang nach Neuem. Und wenn sie das Neue nicht selber finden,
wird es sie rasch und rascher heimsuchen.
Nouakchott füllt sich mit
Neugierigen aller Art, vor allem mit einer Art afrikanischem
Proletariat ohne Fabriken. Und solche wie der Professor bilden erst
jetzt eine Art städtische Bourgeoisie, die die üblichen
Stadtprobleme anzugehen gewillt ist, einfaches wie Müllentsorgung,
schwieriges wie Einwanderung, Segregation, Kriminalität und
zweifellos daraus resultierende politische und religiöse
Spannungen. Deren Ursachen wird der eine oder andere sicher gern im
alkoholisierten Westen orten und entsprechend von sich hören
lassen müssen, wie es leider in Mauretanien in letzter Zeit
schon geschehen ist.
Kleine Aufwallungen und Explosionen
treiben uns alle an. Aggression. Ich spüre meine eigene, umgeben
und umsorgt von scheinbar vollkommen gelassenen und friedlichen
Menschen, spüre meinen Individualismus, der mir zu Hause
erlaubt, grantig und misslaunig zu sein, der in Europa den Motor
antreibt mit dem durch all die Kriege hindurch austarierten,
demokratisierten Mass an Bosheit, das vorwärtsdrängt,
erfindet, produziert, verkauft, dieses System, das uns manchmal so
plagt und einige überrollt, wenn sie nicht stark oder gut
aufgestellt sind, die Versicherung nicht zahlt, die Familie
entfremdet. Was passiert, wenn sich diese Welten treffen? Wo steckt
die Bosheit der Mauretanier?
Schlagen sie ihre Esel zu heftig, die
wirklich sichtbaren Sklaven dieser Gesellschaft? Sind sie manchmal zu
stolz auf ihre Herrschaft, ihren Glauben, ihre Kleidung, ihren Tee,
ihre Geheimnisse? Oder färbt das fast ausschliessliche Fahren
von Dieselfahrzeugen, die nur durch Druckaufbau zünden und nicht
durch Funkenschlag, zu einem andern, dieseligen Verhältnis zur
Kraftübertragung? Nigerianer zum Beispiel fahren ja vorwiegend
Benziner und sind deutlich temperamentvoller. Wie werden wir Milch
trinkende Schweizer uns entwickeln, wenn die günstigeren
Dieselautos zunehmend beliebter werden? Das sind läppische
Fragen um Esel und Ei, aber als Teegespräch ganz passabel.
Das Böse ist überall.
Immerhin führte Mauretanien in den Siebzigern im Norden Krieg
mit den Marokkanern und der Polisario um die Westsahara, deren
Bewohner den Mauretaniern wohl näher sind als dem schliesslich
siegreichen, übermächtigen Marokko. Ein Jahrzehnt später
eskalierte im Süden der übliche Sahelstreit zwischen
Nomaden, hier also den arabisch sprechenden Mauren und den
Ackerbauern und Landarbeitern oder ehemaligen Sklaven. Mauretanien
vertrieb echte und mauretanische Senegalesen nach Senegal, Senegal
mauretanische Händler in die andere Richtung. Und die Art Weise
der Nutzung des Wassers des Senegals wird auch künftig für
Streit zwischen Grossgrundbesitzern, Kleinbauern, einzelnen Stämmen
und dem Staat sorgen. Immerhin wird sich das in einem Staat
abspielen, der es nach dem letzten freundlichen Putsch vor zwei
Jahren geschafft hat, sich mustergültig demokratisch zu
organisieren inklusive Amtszeitbeschränkung des Präsidenten.
Wir fahren mit 100 durch die Wüste,
weg von Kaeidi am Senegalfluss und hin zur Hauptstadt Nouakchott,
eine Strecke, auf der man den Uebergang vom Sahel in die Sahara
beobachten kann. Die Haube ist mit einem Seil gesichert, die
Windschutzscheibe von einem adrigen Risssystem durchzogen, anstatt
Getriebeoel, macht Motorenoel das Schalten schwierig, die Tür
lässt sich nur mit einem kräftigen Ellbogenkick öffnen,
doch der Wagen ist frisch gewaschen. Auf dem Rücksitz sitzen
drei Frauen, neben mir Ibrahim, und ich sage zu ihm, die Hände
am Steuer dieses echt afrikanischen Autos, "kannst du mir bitte
Wasser reichen?" Er öffnet die Plastikflasche, hergestellt
mit Erdoel aus Saudiarabien oder gar aus Venezuela, von Chavez
geliefert, einer der Politclowns, die Ibrahim so mag, und reicht sie
mir. Ich trinke das aus der Tiefe der mauretanischen Wüste
heraufgepumpte Mineralwasser aus, fast aus, ein Viertelschluck
bleibt, und gebe die Flasche zurück. "Du hast nicht
ausgetrunken," meint der Wüstensohn und gibt sie mir
zurück. Ich bemühe mich um komplette Leerung, er nimmt die
leere Flasche und wirft sie aus dem Fenster.

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Himmelsmusik
Eine Reise zu Herrn Lagrange
eine Kurzversion als PDF
Im nördlichen Erdensommer 2008 wird Herschel bei 3 Grad Kelvin
Aussentemperatur Lagrange umkreisen. Herschel ist ein Teleskop der ESA
für den Infrarotbereich. Sein Namensgeber Wilhelm Herschel war im
achtzehnten Jahrhundert der Entdecker des Uranus und der
Infrarotstrahlung sowie ein unermüdlicher Teleskopenbauer.
Joseph-Louis Lagrange war im selben Jahrhundert Mathematiker und fand
einen neuen Zugang zum Dreikörperproblem, die Lagrangepunkte.

Die Beziehung von drei Körpern im Raum lässt sich nicht
abschliessend berechnen ausser für zwei Spezialfälle;
erstens, wenn alle drei gleich schwer sind und zweitens, wenn einer der
drei praktisch keine Masse aufweist, idealerweise also nur ein Punkt
ist. Solche Lagrangepunkte gibt es immer fünf in der Beziehung von
zwei Körpern wie zum Beispiel Erde-Sonne oder Erde-Mond. In den
fünf Lagrangepunkten heben sich Fliehkraft und Anziehungskraft von
zwei verschieden schweren Himmelskörpern auf. Es sind
Parkplätze im Sonnensystem. Und diese Parkplätze werden
benutzt. Bei den stabilen Lagrangepunkten 4 und 5 auf der Umlaufbahn
des jeweils kleineren Körpers finden sich vor allem bei den
grossen Planeten Staub und Steine. Es sind Langzeitparkplätze.
Lagrange 1-3 liegen dagegen auf den Achsen zweier Körper wie
Sonne-Erde und sind instabil, das heisst, auch bei exakter Parkierung
auf dem Punkt würden kleinste Veränderungen zum Abdriften
führen, und solche Veränderungen gibt es immer in der
Gestirnswelt. Es mischen sich Monde und Planeten ein, in unserem
Sonnensystem insbesondere der Jupiter. Eine Abweichung führt
unweigerlich und exponentiell zu Parkplatzverlust, was bewirkt,
dass das Fahrzeug eine eigene Umlaufbahn um die Sonne nimmt und eine
unterschiedliche Geschwindigkeit in Bezug zur Erde erhält.
Bei Lagrange 1 zwischen Sonne und Erde, etwa 1.5 Millionen
Kilometer von uns entfernt, sind schon einige Plätze besetzt, vor
allem von Sonnenbeobachtern wie SOHO. Lagrange 3, versteckt
hinter der Sonne, wäre in der Hoffnung von Ufologen ein diskreter
Parkplatz für Untertassen. Herschel aber wird als zweite Sonde
überhaupt den instabilen, ebenfalls 1.5 Millionen Kilometer
entfernten, aber von der Sonne abgewandten Lagrangepunkt 2
ansteuern und diesen in einem sogenannten Lissajou-Orbit mit einer doch
beachtlichen Maximaldistanz von bis zu 800`000 Kilometern umlaufen und
dabei aber, da dieser Ausschlag nicht zur Erde hin geschieht, zwischen
1,2 – 1,8 Millionen Kilometern von der Erde entfernt bleiben.
Fürs Parkieren muss Herschel von Zeit zu Zeit mit etwas
Steuerenergie bezahlen, ohne den Parkwächter Lagrange je zu
treffen.
Die vielen Lagrangepunkte des Sonnensystems werden in Zukunft für
die Raumfahrt an Bedeutung zunehmen und Ruhe-, Umschlag- sowie
Bauplätze werden. Sie sind auch Angelpunkte für neuartige
Reisewege von Sonden und zukünftigen Raumschiffen, die mit ihrer
Hilfe fast ohne Energie durchs Sonnensystem reisen können. Eine
erste Sonde, der Sonnenwindfänger Genesis, hat sich das schon zu
Nutze gemacht.
Herschel ist der letzte Stein im „four
Cornerstones“-Programm der ESA. Es ist ein komplexes, teures,
personalintensives und organisatorisch sehr anspruchsvolles Projekt,
das aber dementsprechend viel an neuen Erkenntnissen bringen wird.
Herschel schaut als dannzumal grösstes extraterrestrisches
Teleskop mit einem Spiegel aus Siliziumkarbid von 3.5 Metern
Durchmesser tiefer ins All als seine Vorgänger. Hubbles Spiegel
misst 2.5 Metern im Durchmesser. Das James Webb Teleskop, das die
NASA 2013 bei Lagrange 2 parkieren will, wird sogar einen 6,5 Meter
grossen Spiegel haben, aber nicht dasselbe interessante Spektrum wie
Herschel beobachten können. Denn Herschel bietet nicht nur einen
quantitativen Sprung, sondern wird etwas betrachten, das auf der Erde
nicht zu sehen ist: Das Infrarotspektrum zwischen 60 und 670mm von
kalten Objekten wie Molekülwolken und Staub, der Kinderstube von
Sonnensystemen. Speziell und erstmalig erfasst Herschel dabei den
Submillimeterbereich zu den Radiowellen hin.
Infrarotstrahlung von kalten Objekten geht in der Wärme unserer
Atmosphäre verloren. Auch Vorgänger von Herschel wurden
in ihrer Beobachtung von sehr kalten Objekten nur schon durch die nahe,
Wärme abstrahlende Erde und natürlich die aufheizende
Sonneneinstrahlung in ihren Beobachtungen behindert. Herschel wird
darum bei Lagrange 2 parkiert, um weit genug weg von der Erde zu sein,
aber doch günstig gelegen, um eine regelmässige Kommunikation
zu ermöglichen. Herschel erhält einen Schild, der vor dem
Aufheizen durch die Sonneneinstrahlung schützen soll sowie eine
Heliumkühlung für die inneren Apparaturen und führt zu
diesem Zweck zweitausend Liter flüssiges Helium mit, das
fortlaufend verdampfen wird. All dies ist notwendig, obwohl Herschel
sich an einem Ort mit extrem tiefer Temperatur befindet. Die Objekte,
die zu beobachten sind, sind einfach zu kalt. Deren Wärme
analysierbar zu empfangen ist nichts für südliche
Temperamente. So muss auch Herschel selber mit möglichst wenig
Wärmeproduktion arbeiten, wenn es sich mit Gyrosokopen selbst
ausrichtet oder das vom grossen Spiegel empfangene Licht auf die
verschiedenen kleineren Spiegel lenkt, die wiederum die erhaltene
Information an verschiedenste Messapparaturen weiter lenken und gern
Wärme produzieren, wenn Strom durch ihre Schaltkreise fliesst.
Herschel aber wird mit einer inneren Betriebstemperatur von etwa zwei
Grad über dem absoluten Nullpunkt kälter sein als seine
Umgebung und beste Voraussetzungen mitbringen, um nachzuschauen, wie
sich aus kaltem Staub Sterne und Planeten bilden.
Herschel führt drei Verarbeitungsmodule mit sich und wird drei
Jahre lang verschiedensten Instituten auf der Welt zur Verfügung
stehen, solange sollte das mitgeführte Helium als Kühlmittel
reichen. Forscher können ihre Beobachtungswünsche mit
Hilfe spezieller Software formulieren und Herschel damit für
sich arbeiten lassen. Die zwei Module PACS und SPIRE arbeiten mit
Bildverfahren. Das dritte aber verarbeitet das vom grossen
Hauptspiegel erhaltene Licht ähnlich wie ein
Radioempfänger mit einem sogenannten „Heterodyne Instrument
for the Far Infrared“, kurz HIFI, was zufällig aber durchaus
sinnig an Hifi erinnert, denn das HIFI arbeitet nicht nur ähnlich
wie ein Radio, es verarbeitet auch Wellen aus dem noch nie beobachteten
Submillimeterbereich nahe den Radiowellen. Insbesondere
lässt sich damit erstmals Wasser beobachten, dessen Abstrahlung in
genau diesem Bereich am stärksten ist.
Wasser ist nicht nur auf der Erde wichtig, es ist eines der
häufigsten, aber auch verstecktesten Stoffe im All. Dessen
Beobachtung in Molekülwolken und entstehenden Sonnensystemen mit
Temperaturen zwischen 10 und 50 Grad Kelvin verspricht tiefe Einsichten
in die Entstehung von Sternen und Planeten, vor allem in der
Phase der Akkretion, der Verdichtung und Scheibenbildung von
Molekülwolken. Das Wasser verdampft erst im Innern und wird dann
vom sich bildenden Protostern wieder nach aussen geblasen, wo es ja
auch in unserem Planetensystem hauptsächlich und tiefgefroren zu
finden ist. Das Erdenwasser dagegen hat seinen Ursprung anderweitig und
ist ein Spezialfall. Wieweit das Erdenwasser von aussen her durch
Kometen und Asteroiden herangetragen wurde oder zum Teil doch noch aus
der Akkretionsphase stammt, ist unklar. Wasser erlebt jedenfalls
ziemlich viel bei der Sternenbildung und ist ein hervorragender
Informant.
Dieser Informant wird Professor Arnold Benz von der ETH Zürich und
seinem Team für Jahre Arbeit bescheren. Das Institut für
Astronomie leistet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Nutzung
des HIFI. Die zukünftig von Herschel erhaltenen Daten sind nicht
nur mengenmässig zu verarbeiten, sondern in einem permanenten
Lernprozess immer wieder aufs Neue auszulegen. Es gibt viel zu forschen
und auch genügend Studenten und Doktoranden, die sich
interessieren. Die Astronomen leiden nicht wie andere Natur- und
Ingenieurwissenschaften unter Nachwuchsmangel. Professor Benz aber kann
nicht allen eine Stelle anbieten, vor allem auch nicht genügend
solche, um auf Dauer davon leben zu können.
Schaut man bei einem Besuch im Astronomischen Institut aus dem Fenster
mit Sicht über die Stadt, wird in unterschiedlicher Form rasch
klar, was die Wasserbeobachtung auf der Erde behindert, Hochnebel
versperrt die Sicht auf den Uetliberg, ein andermal werden es Cumuli
sein oder mindestens ein paar Kondensstreifen. Unsere wässrige
Atmosphäre stört noch in 100 Kilometern Höhe eine
Wasserbeobachtung im All. Auch die in höchster und reinster Luft
gelegenen Observatorien sind da wenig hilfreich, geschweige denn der
Umstand, dass es auch auf einem Andengipfel für solche
Beobachtungen im Infrarotbereich viel zu warm ist.
Die ETH Astronomen werden dank ihrer Mitarbeit als Wasserforscher einen
Gratiszugang zu Herschel haben. Ein Drittel der Beobachtungszeit ist
für die an der Entwicklung beteiligten Institute reserviert. Der
Schweizer Beitrag des Instituts für Astronomie und des Instituts
für Feldtheorie und Höchstfrequenztechnik der ETH umfasst
ausser Forschung auch Entwicklung und Bau elektronischer und optischer
Bauteile sowie diverse Aufträge an private Firmen.
Solche Aufträge aus der Forschung an die Industrie werden von
PRODEX unterstützt und finanziert, einer von der Schweiz
initiierten Organisation innerhalb der ESA, der vor allem Länder
ohne eigenem Raumfahrtprogramm angehören, die mit dem PRODEX
Programm ihre nationalen industriellen Ressourcen besser vernetzen und
ausschöpfen können. Das Chassis des Heterodynegeräts zum
Beispiel, etwa so gross wie ein Motorblock, wurde bei der Ruagtocher
HTS in Wallisellen aus einem Stück gefräst und ist lediglich
200 Gramm schwer. Die Firma Baumer Electric fertigte zusammen mit der
Contraves die von der ETH entwickelten elektronischen Verstärker.
Alles in Herschels Mission erlaubt nur Präzisionsarbeit und
erfordert bei den Materialien, dass man auch den Verzug mit
einberechnet, den der frostige Arbeitsort mit sich bringt. So wird das
Chassis des HIFI um etwa einen Millimeter schrumpfen.

Herschel wird nicht alleine zu Lagrange reisen. In derselben Ariane
Rakete wird auch das ESA Teleskop Planck platziert. Planck beobachtet
die Hintergrundstrahlung, das Überbleibsel des Urknalls, und wird
zusammen mit Herschel bei Lagrange 2 in einer etwas engeren Umlaufbahn
parkiert werden. Herschel und Planck sind das bisher grösste ESA
Projekt mit Kosten von inzwischen über 2 Milliarden Franken und
einer Verzögerung um ein Jahr, bedingt auch durch die komplizierte
dezentrale Struktur der ESA und der Überforderung einzelner
Teilnehmer. Doch der Schweizer Beitrag steht, und Professor Benz freut
sich schon auf die Einladung zum Start der Ariane 5 in
Französisch-Guyana.
Planck und Herschel beschäftigen sich mit dem Aufzeichnen
und Verarbeiten von Wellen, vom Geplätscher bis zu starker
Brandung: Himmelsmusik. Und Musik begleitete auch ihre Namensgeber,
sowohl Herschel wie Planck waren leidenschaftliche und hervorragende
Musiker. Wir werden noch allerhand von ihnen zu hören bekommen.
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